Nachts, wenn du schläfst 

  Damals in Marseille 

Rutsch doch mal ... 

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10ml Luft 

Augenblick 

Unter der Burka 

Unschuld

"Koffer" - Geburtstagsprosa von Lemann für Arezoo

 

 

Nachts, wenn du schläfst
Arezoo © 1/2004

Manchmal, wenn die Nacht sehr schwarz ist und die Minuten nur tageweise durch das Stundenglas tropfen, dann setze ich mich auf die Fensterbank und erwarte die ersten grauen Strahlen des Morgens.
Am liebsten habe ich es, wenn du gerade da bist. Dann ziehe ich die bloßen Füße auf das Holz, umschließe meinen Körper mit den Armen und sehe beides - die Straße rechts vor dem Fenster und dich links auf dem Bett.
Deine Atemzüge gehen langsam und sehr regelmäßig. Inspiration - Expiration. Ein ewig gleichbleibender Rhythmus. Meist schläfst du nackt, auf dem Bauch, den Kopf halb in das Kissen vergraben.
Fast nie bist du zugedeckt, und wenn, dann nur über dem musculus gluteus maximus, den beiden Rundungen deines Pos.
Ich lasse die Augen die columna vertebralis hinaufgleiten bis zum Atlas, dem letzten Wirbel, der, wenn du dich in aufrechter Haltung befindest, deinen Kopf hält. Stolz.
Vielen erscheinst du arrogant, vielleicht sogar oberflächlich. Ich habe es gehört, hinter vorgehaltener Hand. Natürlich ist es nicht wahr. Du kannst sehr gütig sein und ich habe selten ein schlechtes Wort über andere Menschen von dir gehört. Niemals rollst du mit den Augen, so wie ich es tue, wenn ich ungeduldig bin. Du nimmst dir Zeit für jeden, auch für mich.
Rechts und links der vertebrae thoracicae werfen die scapulae feine Schatten unter dem dünnen subcutanen Fettgewebe. Gerne würde ich ihren oberen Rand mit einem Finger entlangfahren bis zum acromion, der Schulterhöhe.
Doch das ist mir nicht erlaubt. Zum einen, weil es dich wecken würde, zum anderen, weil du nicht mir gehörst. Andere Frauen legen ihre Hände auf deinen musculus trapezius. Keine von ihnen bleibt lange. Du bist ein anspruchsvoller Mann, jung und unabhängig.
Ich bin die einzige, die immer da ist. Über Jahre schon, aber vielleicht auch nur, weil ich nie die kleine Kuhle oberhalb des Pos am Ende der columna vertebralis berührt habe, für die ich keinen Namen weiß.
Manchmal, wenn die Nacht sehr schwarz ist und dem Morgen nicht weichen will, frage ich mich, wo du gerade bist. Ob du allein schläfst oder mit einer Frau. Kennt sie die Namen für all deine Schönheit?
Wenn du nicht da bist, bin ich allein. Es macht mir nichts aus. Ich quäle mich nicht all zu oft mit diesen Gedanken.
Ich warte auf die Tage, an denen du zu mir kommst und vor allem auf die Nächte, in denen keine Kleidung deinen Körper vor mir verbirgt.
Es war dir von Anfang an egal, ob ich dich nackt sehe. Ich sei wie eine Schwester für dich, hast du gesagt.
Einmal hast du auf deinen Bauchnabel gezeigt und gefragt, wie er heißt.
Anulus umbilicalis, habe ich gemurmelt. Du hast gelacht.
Ich hatte meinen Finger ausgestreckt und war die linea alba entlanggefahren vom sternum bis zum anulus umbilicalis.
Danach haben wir beide zu Boden gesehen.
Wir wollen es lassen, wie es ist, und es Bauchnabel nennen, hast du schließlich gesagt. Du hast mich nie wieder nach dem Namen für etwas gefragt.
In Nächten wie diesen aber, wenn du schläfst, benenne ich alles, was ich an dir sehe.

 

 

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Damals in Marseille
Arezoo © 2003

Geteilte Stunden sommerlicher Trägheit.
Laue Nächte durchgeflüstert,
Geheimnisse anvertraut - 
Liebesleid und kurzes Glück.

Jeder Sommer so, 
als wär kein Jahr vergangen.
Muscheln am Strand gesammelt,
bloße Füße im Wellenwiegenlied.
Eins. Verbündet in unserer eigenen Welt. 

Heute schauen wir uns an 
und sind uns fremd.
Die Sandburgen längst ins Meer gespült.

Ich seh in deinen Augen,
die den meinen so sehr gleichen,
nicht mehr mich.
Was uns trennt ist kontinentenweit.

Die Kinder, die wir waren.
Die Frauen, die wir sind.

 

 

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10ml Luft
Arezoo © 2004

Kaliumchlorid

Ein geöffnetes Fenster.
Eine Tür.
Die Beine versagen
und flattern im Wind.
Du kannst nicht bleiben.

Insulin und Benzoediazepin.

Vergessen und gefunden,
vergangen.
Kein Morgen mehr in dir.
Für mich.
Ich bin geblieben.

10 ml Luft

 

 

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Rutsch doch mal ...

Arezoo © 25.06.2004

Rutsch doch mal rüber -
und erzähl mir, was du so träumst.
Was lässt dich lachen, weinen, springen, singen?
Und ich versprech dir, ich hör zu,
bin verschwiegen und halte still.

Rutsch doch mal rüber -
und sieh mich einfach nur mal an.
Was lässt dich sprechen, schweigen, rennen, tanzen?
Und ich koch dir einen Tee.
Roibush Sahne, Earl Grey, Waldbeeren Karamel.

Rutsch doch mal rüber - 
und gib mir deine Hand.
Was lässt dich lieben, leiden, hoffen, wissen?
Und ich halte deine Hand,
wärm dich mit meinen Gliedern.

Rutsch doch mal rüber - 
über mich.

 

 

 

Hallo Arezoo!
Dein Beitrag 'Rutsch doch mal ...', den Du in der Leselupe veröffentlichen
möchtest, wurde
nicht angenommen.
Vielleicht versuchst Du die Idee noch etwas lyrischer auszugestalten.

Grüße von liposmant
(Name geändert)

.. über den Marathonkritiker

 

 

 

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Augenblick
Arezoo ©

Es gibt Momente.
Ich geh nur einen Schritt
und weiß dich neben mir.

Manchmal glaube ich, 
ich könnte fliegen.
Mit deinen Worten auf dem Rücken
und all den Noten in meinem Kopf.

Es gibt Tage, an denen denke ich,
ich könnte alles ändern.
Mit deiner Hand unter dem Arm
und dem Lachen in meinen Ohren.

Wer will schon fliegen, 
alles ändern?

Für mich alleine zählt 
dann doch nur
der 
Moment.

 

 

 

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Menu
Arezoo © 

1. Gang
Tränensuppe mit Hysterie-Einlage

2. Gang
Vorwürfe - scharf angebraten
süß sauer abgeschmeckt

Hauptgang
Marinierte Rechtfertigungen 
auf einem Bett von Beleidigungen
als Beilage ein fliegender Teller 
mit einer Prise Gift
nach Art des Hauses

Dessert 
Ein kleines Klösschen Schweigen
an einer Soße aus pochierter Verzweiflung

Danke,
das nehmen wir.
Zweimal.
Für meinen Mann 
und mich.

 

 

 

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Unter der Burka
Arezoo © 23.10.2003

Hinter Schleiern sind Augen verwischt.
Der Körper formlos von Stoff umgeben
geht ohne Kontur direkt 
in das graue Braun der Strassen über.
Der Gewänder Säume wirbeln Staub auf
bei jedem Schritt.
Die Gleichheit der Masse hat
den Kopf gesenkt
ergeben.

Ein Zufall 
Manchmal trifft ein Blick den anderen
und mann kann die Schönheit ahnen,
den Funken Stolz, der noch geblieben,
die sie gezwungen sind zu verbergen
unter dem Schleier
von dem die Welt glaubt
er sei der ganze
Rest unserer
Kultur.

 

 

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Unschuld
Arezoo © 27.06.2004

Der Raum ist weiß, kahl und leer, bis auf einen länglichen Metalltisch in der Mitte und zwei kleine Plastik-Wagen mit medizinischen Instrumenten. Eine der Neonröhren links oben in der Ecke flackert, und ich frage mich, wie oft in der Minute. Vielleicht ergeben die Lichtblitze ein Muster, eine gewisse Regelmäßigkeit. 
Mir ist kalt. Ich friere. Meine nackten Füße auf blankem Metall.
Du hast gesagt, wir würden zusammengehören. Ich habe gelacht.
Du hast mich angerufen. Erst nur einmal die Woche, dann jeden Tag, wenn ich von der Arbeit kam und auch am Wochenende. 
Ich habe mich geschmeichelt gefühlt. 
Blumen, all die vielen Blumen. Sie kamen an Daten mit Primzahlen, weil ich dir einmal am Kopierer in der Firma erzählte, wie sehr ich Primzahlen liebe. Alle Blumen in Weiß. Unschuld, hast du am Telefon gesagt. Unschuldig wie unsere Liebe. Deine Liebe.
Rosen, Nelken, schließlich Lilien. Die Lilien kamen jeden Tag, und als ich dem Boten nicht mehr öffnete, legte er den Karton auf die Schwelle. Ich konnte sie durch die geschlossene Tür riechen. Schwer, süß. Durchdringend.
Oft hast du mitten in der Nacht angerufen und mir gesagt, wir sehr du mich liebtest und was du nicht alles für mich tun würdest.
Es fing an, mir unheimlich zu werden. Du warst mir unheimlich.
Du hast das Wort mit weißer Kreide an meine Wohnungstür geschrieben. Unschuld.
Du hast es auf weiße Blätter in Weiß geschrieben und unter die Scheibenwischer meines Autos geklemmt. Nur ich konnte es lesen. Unschuld.
Der Gedanke hat mich fast verrückt gemacht.
Gesehen habe ich dich eigentlich recht selten in der Firma, wenn ich es mir so überlege. Mal im Flur auf dem Weg zur Mittagspause, am Kopierer oder am Kaffeeautomaten.
Dafür standest du fast jeden Abend in der kleinen Toreinfahrt, die meinem Haus gegenüber liegt, und hast gelächelt. Lautlos mit den Lippen das Wort geformt. Unschuld.
Ich habe keine Brötchen mehr gekauft an den Samstagen. Überhaupt bin ich oft zu Haus geblieben.
Weißt du noch das eine Mal, als ich mit Ela im Kino war? Du hast eine Reihe hinter uns gesessen. Ich habe dir gesagt, dass mir das Angst macht, dass du mir Angst machst.
Du hast gelächelt. Ein Zufall, dass zwei aus der selben Firma am selben Abend ins Kino gehen und den selben Film schauen. Ela hat mich angeschaut, als wäre ich verrückt. Ich glaube, sie fand dich ganz nett.
Danach war alles anders. Du hast mich angefaßt. Meinen Arm gezogen, als ich vom Einkaufen kam. Ich hatte deinen heißen Atem an meinem Hals, gleich unterhalb des linken Ohrs. Ich kann die Stelle noch genau spüren.
Wenig später, in derselben Nacht, hast du mich angerufen. Ich bin nicht rangegangen. Habe mir die Decke über die Ohren gezogen und auf das Piepen des Anrufbeantworters gewartet. Ich würde sehen, hast du gesagt, meine Zeit ist begrenzt. Du hättest lange genug Geduld mit mir gehabt, aber jetzt müßte ich doch einfach verstehen, daß du und ich ein Wir sind. Und unsere Liebe unschuldig ist, deine Liebe unschuldig ist.
Ich habe die Kassette aus dem Gerät genommen und bin zur Polizei gegangen. Die haben gelacht. Du wärst unschuldig, sagten sie.
Zwei Wochen habe ich mich krankschreiben lassen. Die Blumen kamen weiter.
Ich war nicht mehr einkaufen, seit dem Vorfall. Habe mir Essen bestellt. Chinesisch, Pizza, Gyros und Vegetarisch.
An einem Montag im Mai ging ich wieder arbeiten. Du hast morgens nicht in der Toreinfahrt gewartet. Ich habe gedacht, du hättest aufgegeben. Als mir der Meyer aus dem Einkauf im dritten Stock ganz beiläufig zwischen zwei Bissen Bratwurst aus der Kantine erzählte, du hättest seit letzter Woche Urlaub, ist mir ganz übel geworden. Nicht nur wegen den kleinen Speichelfädchen in Meyers Mundwinkeln.
Ich überlegte fast den ganzen Nachmittag und schließlich fragte ich Evelyn aus der Lohnbuchhaltung, ob sie mich wohl nach Hause fahren könne. Ich habe sie angelogen. Habe ihr erzählt, mein Auto würde nicht anspringen.
Sie hat ein wenig geseufzt, weil sie spät dran war und mit ein paar Auszubildenden noch etwas trinken gehen wollte. Ich habe ihr einen Kaffee bei mir angeboten, aber sie hat abgelehnt und ist gleich weiter gefahren.

Ich wollte nicht betteln.
Als ich sah, daß niemand in der Toreinfahrt stand, mußte ich lächeln. Gespenster. 
Du hast auf meiner Couch gesessen, als ich die Wohnung betrat. Im Dunkeln. Die weißen Lilien im Arm. 
Unschuld.
Eine der Neonröhren links oben in der Ecke flackert. Ein Arzt betritt den Raum. Er sieht sehr jung aus. Hat noch nicht so viel gesehen, ist noch sehr gewissenhaft, so, wie er sich die Hände wäscht. In Unschuld.
Er pfeift ein wenig dabei. Ohne Ton und ohne Melodie.
Langsam streift er sich zwei Untersuchungshandschuhe über und tritt an den Tisch, auf dem ich liege. Mit Zeige- und Ringfinger fährt er über meine Augenlider. Dabei berührt sein Handteller ganz sacht, wie ein Schmetterlingsflügel meine Nasenspitze. 
Nein, ich habe keine Schmerzen. Mir ist nur kalt. Ich friere. 
Meine nackten Füße auf dem blanken Metall
.

 

 

 

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"Koffer" - Geburtstagsprosa von Lemann für Arezoo

 

Arezoo in der Leselupe

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