Alltag

Baustelle

Dieses Haus

Bruder Herbst

Keine Angst

Morgenbeben

Besuch

Brücken

Wenn du mir fehlst

Entfernung 

 

 

 

Alltag (Hochhausordnung)
Holger Müller © 12/2002

Räume die Flure. Steh nicht so zögernd 
im Fluchtweg hastig sprühender Hände. 
Verlasse zügig mit zählenden Schritten 
das klamme, schweigende Atmen der Wände. 

Zögere nicht. Erschleich dir die Treppen. 
Entzieh dich dem anonymen Begehren 
Dem trüben Blick, dem schattig lockenden 
Fahrstuhl mit seinem fremden Verzehren. 

Dreh jeden Schlüssel. Füll die Pupille 
der Tür mit deinen wachsamsten Blicken. 
Der Gasmann, er lügt. Er wird irgendwann 
die Klingel töten. Die Klinken erdrücken. 

Er nimmt dir die Briefe und klebt dir die Siegel. 
Er kommt zwar, doch geht nie mit leeren Händen. 
So werden die Möbel schweigend, gefügig, 
ihr Leben an diesen Vogel verpfänden. 

Befreie die Zeitung von ihren Geschichten 
Entsorge die Drohung aus allen Reklamen 
Zerkratze die Schilder. Du brauchst nicht grüßen 
Den meisten Gesichtern fehlen die Namen 

Sieh dich nicht um. Vergiss nicht zu atmen. 
Schenk die gesprungenen Fenster dem Wind 
Bleib an den Wänden. Hebe die Füße. 
Geländer sind manchmal nicht, was sie sind. 

 

 

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Morgenbeben
Holger Müller © 1/2002

Morgendlich perlt die 
Nacht vom Lidschlag 
des Mondes. Von 
meinen Lippen rieselt 
kussleicht Schnee 
in deine Täler und 
meine Zunge badet 
wieder im Nabel der 
Welt, dass die Knospen 
sprießen und sich 
die Dünen mit Tau 
benetzen und in 
Bewegung geraten. 

Hände aus Wind 
türmen Wellen. Nur, 
anders als Wasser, 
enden alle Kreise 
unserer seismischen 
Ahnungen Bermudas 
in einem Punkt. 

 

 

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Baustelle
Holger Müller © 7/2003

Die Dämmerung wirft die Motoren an. Sie wickelt das Dunkel auf die Kabelrollen und hebt den Tag aus der Taufe. 
Die Baustellenkatze flüchtet erschrocken in den letzten Rest Nacht unter der Wohnbaracke. Aus der Wärme dort holt sie sich das Bernsteinglühen in ihre Augen. Der Morgen beginnt die Zeit zu schaufeln und schichtet ziegelrote Wände. Der Meister reibt sich 'nen Termin aus den Augen oder ein Sandkorn. Seine Worte mischen sich zementgrau zum Beton. 
Wenn sie abbinden an den Leuten, dann schallt sein Lachen mit dem Grölen der Bagger. Wir schaufeln dem Globus Gräben aus der Rundung und gießen dem Tag ein Fundament, auf das man bauen kann. Aus den Schneidbrennern springen Funken für tausend und einen Wunsch, bis der Mittag von den Gerüsten steigt. 
Dann springen die Worte durch die Kantine wie Tennisbälle. Sie gießen sich milchig in den Kaffee oder rieseln erloschen in den Aschenbecher. Bis sich die Zeit den Handschuh überstreift und ins Freie tritt oder das Freizeichen aus dem Telefon jagt. 
Die Kräne streifen mit ausgebreiteten Armen den Himmel. Sie drehen die Ausleger über die Uhren. Noch einmal überrunden wir den Nachmittag Stein um Stein auf dem Zifferblatt. Wir legen ihn schlafen in die noch frischen Fugen des Tages. Wenn Papiere ungeduldig werden und die Bleistifte durchhängen, wenn der Feierabend mit erlösender Hand den Schlüssel dreht, sieht die Welt schon ganz anders aus. 
Hinter erloschenen Fenstern hält die Baracke den Tagesatem an. Die Baustellenkatze krallt sich einen Zipfel Abend und zerrt ihn in ihren Schlupfwinkel wie das liegengelassene Schmunzeln der Küchenfrau. 

 

 

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Besuch
Für Großvater
Holger Müller © 11/2003

(I) 

Zu dunkel war mir dieses Zimmer, 
in dem sie dir die Blicke, 
die ins Leere gingen, schlossen. 

Die Lider still, die sonst 
so unruhig deinen Puls bedeckten, 
der vor den Salven alter Träume 
aus den Nächten floh. 

Kein Mund hat ohne deinen Atem 
einen Trost gewusst. Die Stille, 
die mir wie ein Dieb ins Leben schlich, 
nahm jeden unserer Pläne mit. 

(II) 

Gefaltet hielt ich meine Hände, 
ohne ein Gebet zu haben, als du 
in jener schwarzen Vase dieses 
Häufchen meines Elends warst. 

Ich war mir fremd 
in diesem Park der Namen, 
wo die Steine wie Soldaten 
in den Jahren stehen. 

Heut lege ich dir meine Hände wieder 
auf die Schultern, den Granit, 
und jedes eingravierte Wort brennt 
mir mit Tränen meine Augen grau. 

 

 

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Dieses Haus
Holger Müller © 4/2003

Dieses Haus atmet hinter vernarbten Wänden, 
die mir die Haut verstärken, mit gemauerten 
Armen unter den Geländern Stufen falten und 
zwischen ihren Fingern Dächer spannen. 
Von den Handflächen der Balkone breche ich 
mit der Katze auf, an den Sternen vorbei 
Milch zu kaufen und den verschütteten Rest 
der Nacht in die Schale des Mondes zu gießen. 
Wenn er hinter der Tischkante des Morgens 
untergeht, behalten die Mauern das Licht in 
den Steckdosen und geben es abends zurück. 

Dieses Haus redet mit den Lippen der Türen, 
an denen das Warten in alle Richtungen schlägt, 
in deren Scharnieren der Wind schläft, bis ich mir 
in der Küche begegne, noch etwas Zeit ins Radio 
fülle und mir im Gehen die Klinke in die Hand gebe. 
Ich schenke dem Klingelschild meinen Namen und 
streiche über die verletzte Haut der Haustür, die 
den Schatten im Flur hält und an eisernen Angeln 
die Arme verschränkt und Geschichten bewahrt. 

Dieses Haus blickt aus den geöffneten Lidern 
der Fenster, in denen mir ein Rechteck Himmel 
gehört, in das ich Zeilen ziehe mit der Jalousie. 
Ich kann mit einer grünen Hand durch die Rahmen 
in die Bäume fassen und den Gesang aus den 
Blättern schütteln, bis er den Kindern vor die Füße 
fällt. Sie tragen ihn wie ein Lachen durch die Gassen 
und machen die Häuser bunt. In den Blumenkästen 
blühen Sternschnuppen, die vor die Fenster 
fielen, als deine Nacht an meine Scheiben floss. 

Dieses Haus, das im Keller am Tropf der Stadt 
hängt, braucht Hände, die sich an die Mauern 
legen und ihren Puls erfühlen, die Türen in Gang 
halten und den Wind beruhigen oder die Fenster 
öffnen und Licht unter ihre Flügel lassen. 

 

 

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Brücken
Holger Müller © 1/2003

Durch die Großstadtkontinente 
treibt das Leben seine Risse. 
Doch ziehen mir die Uferhände 
Wege über alte Flüsse, 

über die Gedanken hinken, 
im Spagat die Sprachen liegen. 
Das rechte Ufer ist dem linken 
ähnlich, aber doch verschieden. 

So höre ich die filigranen 
Konstruktionen klagen 
über ihre schmalen Ränder. 

Tiefen kann ich nur erahnen 
und montiere meinen Fragen 
ein stabiles Wortgeländer. 

 

 

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Bruder Herbst
Holger Müller © 11/2003

Der Tag schläft in den alten Bäumen. Sie halten ihn mit 
hölzernen Fingern. Er regt sich mit einem Raunen, dass 
eine Welle Licht gegen den Horizont läuft und alles in 
Bewegung bringt. 
Beim Erwachen fällt ihm das Laub von den Lidern. Noch 
hält er kurz inne. Heute bleibt er ruhig. Er wird nicht mit 
seiner Wasserfaust übers Land ziehen und die 
Windrichtungen um die Häuser drehen. 
Er streckt sich noch einmal und streicht mit einer Windhand 
durchs Gras. Das letzte Grün färbt ihm die Finger und 
irgendwann wird er damit an einem Blumenladen 
vorbeistreifen oder an einem Kindergarten. Er zieht die Sonne 
hinter sich her und hängt sie vor eines der Fenster, das etwas 
Wärme braucht. Sein Blick legt ein Gold auf die Tapete, das 
er sich von den Sommerfeldern bewahrt hat. 
Die Bilder werden wieder lebendig davon und die Kinder 
laufen noch einmal barfuss durchs Zimmer. 
Er wird ihnen ein Zelt spannen und es Nachmittag nennen. 
Für ihre Papierdrachen braucht er nur den kleinen Finger 
und ein Lächeln. Er hängt sie als buntes Winken in den 
Himmel und macht es an der Sichel des Mondes fest, dass es 
länger dauert. Den Jubel bewahrt er sich in den Händen. 
Er legt sie ineinander, um kein Lachen zu verlieren. 
Manchmal horcht er daran und sein Schritt wird leichter davon. 
Es macht ihm die Lippen rot, mit denen er Wolken formt. Sie 
schäumen über die Gegend und nehmen Gestalten an, die er 
unendlich lang kennt. Jeden Abend ein Wiedersehen. 
Er wird mit einem Mantel voll Dämmerung durch die Straßen 
laufen. Er breitet Scherenschnitte auf den Wegen aus und 
streicht die Schatten glatt, die zwischen dem ausgegossenen 
Licht der Fenster liegen. Wo er geht, lässt er etwas kühlen 
Atem zurück. Dem Alten unter der Brücke möchte er noch 
einen glimmenden Blick schenken und lässt das Lachen der 
Kinder klingelnd in die schäbige Mütze fallen. Beide wissen, 
es bleibt nicht mehr viel Zeit. 
Wenn er zurückkehrt in seine Bäume, sitzt da vielleicht schon 
sein Bruder und erzählt mit gläsernen Lippen von weißem Licht, 
das in abertausend Kristallen aus den Wolken fällt. 
Er wird ruhig bleiben heute. Er wünscht sich ein mildes Blau, das 
in Erinnerung bleibt, von dem so manches noch einmal blühen 
könnte. Er steigt aus den Ästen und weckt die Vögel in seinem 
Bart, dass die Luft lebendig wird und nach Liedern klingt. 
Er schlüpft in bunte Laubschuhe und streicht sich ein Rascheln 
unter die Sohlen. Als es sich bunt genug anhört, nimmt er 
eine Himmelsrichtung und geht die Kinder suchen und den Alten. 

 

 

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Wenn du mir fehlst
Holger Müller © 10/2003

Es muss keine Nacht sein, 
wenn du mir fehlst, dass 
mir alles zu groß ist 
und alles zu still. 

Es reicht so ein Tag, 
an dem die Wände nicht 
atmen und die Blumen 
langsamer wachsen. 

Die Uhr kennt mich nicht. 
Sie teilt ihre Zeit nicht 
mit mir wie du. Sie wendet 
tonlos die Zeiger ab. 

Es reicht schon, 
dass ein Kuss nicht leuchtet 
auf deinen Lippen 
und meine Gedanken 
mit der Tür ins Wort fallen. 

Es muss nicht Nacht sein, 
wenn du mir fehlst. 
Doch sind die Kissen 
mir dann erst recht 
arktische Landschaft. 

 

 

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Keine Angst
Holger Müller © 1/2003

Wenn mir der Morgen mit 
seinem Bogen über ein Haar streicht, 
dass alle Geigen sich winden, 
dann ist es der Wecker. 
Keine Angst. 

Das Trommelfeuer, in dem die 
Straße zerfetzt und die Echos 
an Fenstern reißen, ist ein 
Presslufthammer 
Keine Angst. 

Der Tote im U-Bahnschacht, 
der in den Hinterhalt der Nacht lief, 
dass der Tag Bögen um ihn zieht 
nüchtert nur aus. 
Keine Angst. 

Dass die Sirenen geduckt 
in ihren Dachrinnen hocken, 
wenn morgen die Dächer heulen, 
das ist nur ein Test. 
für die Angst. 

 

 

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Entfernung
Holger Müller © 12/2003

Abends sind alle Entfernungen länger. 
An jeder Ampel eine Erinnerung. An jeder Kreuzung ein 
Name, den es auch anderswo gibt. Die Ebene ist gerodet, 
die Balkonklippen grau, die Flüsse zu Asphalt erstarrt. 
Darüber treibt die Stadt mit Blechpuls tausend Lichter. 
Mein Klingelschild ist eine Kopie, mein Zimmer eine 
Wartehalle. Die Wände, die die Türen ins Echo drehen, 
stehen mit dem Rücken zu mir. Im Treppenhaus reden die 
Stufen vom Holz, die Klingeln von ihren Tönen. Meine 
Gedanken sind noch barfuss auf den Plätzen unterwegs. 

Abends klingen alle Entfernungen anders. 
Ich kann sie in die Straße rufen und auf ein Echo warten. 
Nebenan biegt die Wut der Nachbarn Wände, bis dein 
Flüstern mit einem Klingeln nach meinem Telefon greift. 
An den Drähten, die wir von Stadt zu Stadt spannen, 
gleiten die Worte wie Seilbahnen hin und her. Sie lassen 
diese Sehnsucht aus- und einsteigen. Dann ist das Zimmer 
leise, die Uhr lauscht. Ein Atemzug rinnt am Glas hinab 
und macht die Scheiben flüssig. 

Abends fühlt sich jede Entfernung anders an. 
Hier verfehlt mich jeder Kuss. Die Nachrichten lassen 
mich aus. Vorm Fenster ist die Gegend schon schwarz. 
Die Stadt kommt morgen erst wieder. Mit dem Licht der 
Mondschale mache ich Nachtlandschaften begehbar, die 
jede Stunde anders aussehen. Die Träume hängen in den 
Steckdosen fest und was draußen grell durch die Nacht 
zuckt, geht mich nichts an. Wenn später das Lachen der 
Leuchtreklamen als Regenbogen in den Pfützen schwimmt, 
ist noch alles beim alten. 

Morgens werden die Entfernungen kleiner. 
Die Städte nehmen andere Namen an. Die eine heißt Du, 
die andere Ich. Dazwischen spannen wir Bänder, auf denen 
man fahren kann. Ich finde dich in den Fahrplänen. 
Die Durchsagen sprechen von dir. Ich dränge mich 
zwischen die Zeiten. Ich halte die Minuten zusammen. 
Die Entfernung, der wir Stunden geben oder die wir als 
Kilometer in Landkarten falten, ist eine andere Art von 

Nähe.

 

 

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Kurzgeschichte von Holger:

Sie warten gerade auf die S-Bahn 

 

 

 

 

 

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