Ein Strauß Leben
Minouche
© 2004
Noch ist der Winter in der Stadt. Er versteckt sich in den Hinterhöfen und den
kleinen Gassen mit glitschigen schmutziggrauen Schneehaufen. Er fegt um die
Fenster der Betonblock-Siedlungen mit einem nur noch mäßig kalten Windhauch,
als wollte er sagen: „ Ich bin lästig, aber ich bin noch hier!“ So richtig
furchteinflößend ist er nicht mehr, er ist ein kleiner alter knubbeliger Mann
geworden im Laufe der Wintermonate, der hämisch versucht, den Leuten kalt die
Hosenbeine hochzufahren. Als wäre er unzufrieden mit seinem Werk, streut er ab
und an etwas Glatteis auf die Straßen und lässt sie rutschen, die Menschen,
die auf ihnen gehen und fahren. Er ist sehr sarkastisch geworden, der alte Herr
mit der frostigen Nase. Und verbittert. Zu viele Streufahrzeuge haben ihm wohl
die Tour vermasselt. Und die Menschen, die sind ihn leid. Den Winter. Sie wollen
in den Straßencafés sitzen, lässig ihren Cappuccino trinken und schauen, wer
wohl vorbeikommt.
Sie ist ihn auch leid, den Winter. Sie mag ihn nicht. Sie mag die Kälte nicht.
Und die Unerbittlichkeit einer laufenden Nase. Nein, sie hasst den Winter aus
vollem Herzen.
Mit weit ausgreifenden Schritten läuft sie die Hauptstraße entlang. Ein junges
Mädchen mit Nasenpiercing, raspelkurzen Haaren und einer Figur, die selbst ältere
Herren noch zum Träumen bringt. Sie läuft wie der Teufel. Lange Schritte.
Weitausgreifende Schritte. Sie hat es wohl eilig. Sie sieht nicht die Tische und
Stühle einiger mutiger Café-Besitzer, die in diesem milden Februar schon das
Straßen-Café eröffnet haben. Einige winterfeste Leute haben es schon nach
draußen geschafft. Sie sitzen dick vermummt. Und schauen nach den Menschen, die
die Straße entlanggehen. Sie meinen, dem Winter ein Schnippchen schlagen und
ihn frühzeitig verjagen zu können.
Sie sieht nicht die Blicke, die ihr folgen. Sie hat ihren Weg eingeschlagen. Sie
geht. Nein, sie läuft! Sie rennt, als wäre ihr der Winter persönlich auf den
Fersen! Mit ihren engen schwarzen Hosen, dem dünnen, schwarzen Blouson, der
doch eigentlich noch viel zu kalt ist für 10 Grad Celsius, mit den neongrüngefärbten
Stoppelhärchen auf ihrem Kopf. Sie läuft weiter, keinen Blick für die
gaffende Menge in ihren grünen Augen, die nicht gefärbt sind. Mit keinem Blick
dafür in ihrem weißgetünchtem Gesicht, das so bleich ist, als wäre gerade
erst der Maler zu Besuch gewesen und hätte sie alpenweiß gemalt. Kein Erkennen
zeigt der verkniffene Mund, zusammengepresst gegen die Kälte, keine Genügsamkeit.
Keine Ruhe.
Vielleicht wäre sie sogar hübsch, wer weiß? Vielleicht. Im Moment ist sie nur
gehetzt. Und läuft, nein, rennt weiter.
Bis zum Zentrum der Stadt. Dort bleibt sie stehen. Abrupt. Sie läuft nicht aus,
in Ruhe. Nein. Stoppt mitten im vollen Lauf, als wüßte sie nicht, wohin sie
nun gehen sollte. Sie steht und schaut. Wohin? Auf die dummen Menschen
rundherum? Die sie angaffen, ob sie normal ist? Auf die tristen Betonbauten
ringsumher? Hohle schwarze Fensteraugen sehen sie desinteressiert an.
Zögernd setzt sie sich wieder in Trab. Schnaufend. Sie ist sichtlich außer
Atem. Ein Markt ist dort in der Altstadt. Sie steuert einen Blumenstand an.
„Frühlingsblumen, bitte !“, ruft sie. Und verkrampft die Hände im Blouson.
„Frühlingsblumen, bitte!“ schreit sie die gehetzte dünne Verkäuferin
hinter dem Stand an. „Was?“kommt es desillusioniert zurück. „ Frühlingsblumen....“
sagt sie. Außer Atem. Kann es kaum sagen.
Endlich Aufmerksamkeit. Die Verkäuferin schaut sie an. „Was wollen Sie? Ich
habe Tulpen, Narzissen, Krokusse im Topf. Was?“ Sie sieht unglücklich aus.
Was will sie? Um sie her verschiedene Blumen. Lilien in Eimern. Völlig
unpassend zur Jahreszeit. Sie sieht glutrote Rosen, müssen wohl aus Afrika
sein. Sie sieht kaiserliche gelbe Chrysanthemen aus China oder wer weiß woher.
Orchideen und Strelizien aus, ja woher nur? Sie sieht jede Menge Blumen. Die
Verkäuferin schaut sie entnervt an. „Was wollen Sie für Frühlingsblumen?
Narzissen? Ein Bund Tulpen zu 2 Euro, das ist geschenkt!“
„Nein“ sagt sie und dreht sich weg und spürt im Nacken den Hass der Verkäuferin
auf ausgemergelte Kreaturen wie sie.
„ Ich will....“ fängt sie an....doch als sie den Blick der Verkäuferin
sieht, zuckt sie zurück. Nimmt sich zusammen. Fängt wieder an. „Ich
will.....“Weiter kommt sie nicht. „Ja, was wollen Sie denn nun? Bisschen
Crack, bisschen Koks, was?“ schreit ihr die unausgesprochene Frage entgegen.
Sie kennt diese Blicke nur zu gut. Sie versucht sich zu sammeln. Wendet sich ab.
Raus aus dem Vordach, weg von den Blicken, den vorwurfsvollen. Ab in den Wind.
Was will sie denn eigentlich? Ein Leben. Ja. Einen Strauß Leben, das will sie.
Sie dreht sich um. Geht zurück. Überwindet die Angst und die Unsicherheit, die
sich um ihr Herz klammern. Einen Strauß Leben.
Sie sieht die Verkäuferin an. Die schaut zurück. Die Skepsis, das Misstrauen
in den Augen ist kalt wie der sich verabschiedende Winter in den Straßen. Wie
Schneematsch. Jovial, aber kalt.
Grau, desinteressiert.
„Ich will einen Strauß Leben,“ sagt sie. „Was?“ fragt die Verkäuferin
vom Stand und schaut sie nun unverhohlen böse an. „Könnten Sie bitte genau
sagen, was Sie wollen? Einen Strauß Leben! „ und dreht sich wieder weg und
holt sich einen Kaffee aus der Thermoskanne. „Eben wollten Sie noch Frühlingsblumen.“
murmelt sie und sagt noch einiges anderes, was im Schlürfen des Kaffees
untergeht.
Doch sie bleibt stur. „Einen Strauß Leben!“ ruft sie! „Bitte! Ich habe
auch Geld!“ Aus ihrem Brustbeutel fördert sie 10 nagelneue 10-Euro-Scheine
zutage. „Bitte!!“ ruft sie. „Es ist lebenswichtig für mich!“ Sie legt
die Scheine auf den Tresen des Marktstandes.
Die Verkäuferin schaut ungläubig darauf und stellt den Becher Kaffee weg.
„Ja...klar, für 100 Euro“ grinst sie und schaut das Mädchen an. „Einen
Strauß Leben. Gut, sollen Sie kriegen. Gut! Wollen mal sehen....\"
Sie packt Narzissen ein. „Geburt, alles klar, Kleine. Zur Geburt
Narzissen?“. Als nächstes Rosen. „ Und? Deine erste Liebe?“ fragt die
Verkäuferin. Dunkelrot sind die Rosen, wie Blut. „Die Rosen werden heller mit
dem Vergehen der Liebe, bis sie unschuldig weiß sind.“ grinst die Verkäuferin
und packt hellrote, rosafarbene, zum Schluss weiße Rosen hinzu. Das erste Kind.
Sie nimmt ein paar apricotfarbene Ochideen dazu. Das zweite Kind. Es reicht wohl
nur noch zu weißen Freesien. Strelizien, exotisch und orange-blau: ein
Seitensprung, hahaha! Die silberne Hochzeit. Es kommen lilafarbene Rosen, für
das Besondere dieses Anlasses. Die goldene Hochzeit. Es kommen gelbe Rosen. Der
Tod. Sie packt weiße Lilien ein. Und Vergissmeinnicht, um die Unbeschwertheit
der Kindheit zu symbolisieren.
„Gut so? Der Strauß Leben?“ fragt sie hoffnungsvoll das Mädchen.
„Fein“, antwortet das Mädchen, „...aber die schwarzen Lilien dort, die hätte
ich gern noch dabei!“ Der Strauß ist mittlerweile ein ganzer Arm voll Blumen.
„Die kosten extra“ sagt die Verkäuferin, ein wenig eingeschnappt, dass ihr
Strauß wohl doch nicht ganz perfekt war. „Die will ich!“ antwortet das Mädchen,
„ich habe Geld“ und zückt wieder den Brustbeutel. „Schwarze
Lilien.......“ sagt die Verkäuferin und schaut das Mädchen düster an
„.....bringen Unglück ins Leben.“ „Ich nehme sie“ sagt das Mädchen,
„Alle!“.
Es ist ein Riesenstrauß. Er kostet keine 100 Euro. Aber fast soviel. Und die
schwarzen Lilien kosten extra.
Sie nimmt den in Blumenpapier gewickelten Strauß in den Arm, und hastet wieder
los. Das Gewicht der Blumen bremst ihre Schritte. Weiter. Sie schnauft, der
Schweiß rinnt ihr am Körper herunter. Ihr ist heiß, ihr Schweiß jedoch ist
eiskalt. Sie kann nicht mehr. Zu schwer wiegt ein ganzer Strauß Leben. Doch sie
geht weiter. Meter für Meter. Immer schwerer werden die Blumen in ihren Armen.
Ab und zu nimmt sie eine Nase Frühlingsduft von den Narzissen. Zur Geburt.
Endlich ist sie da. Erschöpft, durchgeschwitzt, atemlos. Vor dem Altar der
Kirche bricht sie fast zusammen, so müde, so zerschlagen ist sie. Geht in die
Knie. Klammert sich an ihrem Strauß Leben fest. Lässt nicht los. Sie spürt
einen Arm auf ihrer Schulter. Der Pfarrer. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragt er
besorgt. „Oh bitte ja!“ flüstert sie, „bitte stellen Sie meine Blumen
hier auf den Altar, ja? Würden Sie das für mich tun, oh bitte, es ist so
wichtig!“ „Aber ja, ja, so beruhigen Sie sich doch!“ Der Pfarrer ist ganz
Güte und Zuversicht. „Sie versprechen es?“fragt sie ängstlich und drückt
dem Pfarrer den Riesenstrauß in die Arme. Er schaut sie an. „Versprochen.“
Er schaut in das Blumenpapier. Eine Symphonie aus Farben und Düften der
verschiedensten Blumen vernebelt ihm die Sinne. Er schaut hoch, doch das Mädchen
ist fort. Sie ist gegangen.
Sie ist schon wieder auf der Station. Man hat schon auf sie gewartet. Die nächste
Chemotherapie. Es dauert nicht mehr lang. Und der Winter ist noch in der Stadt.
____________________________________
Entfernung
Holger
Müller © 12/2003
Abends sind alle Entfernungen länger.
An jeder Ampel eine Erinnerung. An jeder Kreuzung ein
Name, den es auch anderswo gibt. Die Ebene ist gerodet,
die Balkonklippen grau, die Flüsse zu Asphalt erstarrt.
Darüber treibt die Stadt mit Blechpuls tausend Lichter.
Mein Klingelschild ist eine Kopie, mein Zimmer eine
Wartehalle. Die Wände, die die Türen ins Echo drehen,
stehen mit dem Rücken zu mir. Im Treppenhaus reden die
Stufen vom Holz, die Klingeln von ihren Tönen. Meine
Gedanken sind noch barfuss auf den Plätzen unterwegs.
Abends klingen alle Entfernungen anders.
Ich kann sie in die Straße rufen und auf ein Echo warten.
Nebenan biegt die Wut der Nachbarn Wände, bis dein
Flüstern mit einem Klingeln nach meinem Telefon greift.
An den Drähten, die wir von Stadt zu Stadt spannen,
gleiten die Worte wie Seilbahnen hin und her. Sie lassen
diese Sehnsucht aus- und einsteigen. Dann ist das Zimmer
leise, die Uhr lauscht. Ein Atemzug rinnt am Glas hinab
und macht die Scheiben flüssig.
Abends fühlt sich jede Entfernung anders an.
Hier verfehlt mich jeder Kuss. Die Nachrichten lassen
mich aus. Vorm Fenster ist die Gegend schon schwarz.
Die Stadt kommt morgen erst wieder. Mit dem Licht der
Mondschale mache ich Nachtlandschaften begehbar, die
jede Stunde anders aussehen. Die Träume hängen in den
Steckdosen fest und was draußen grell durch die Nacht
zuckt, geht mich nichts an. Wenn später das Lachen der
Leuchtreklamen als Regenbogen in den Pfützen schwimmt,
ist noch alles beim alten.
Morgens werden die Entfernungen kleiner.
Die Städte nehmen andere Namen an. Die eine heißt Du,
die andere Ich. Dazwischen spannen wir Bänder, auf denen
man fahren kann. Ich finde dich in den Fahrplänen.
Die Durchsagen sprechen von dir. Ich dränge mich
zwischen die Zeiten. Ich halte die Minuten zusammen.
Die Entfernung, der wir Stunden geben oder die wir als
Kilometer in Landkarten falten, ist eine andere Art von
Nähe.
Nichts
sah ich, um Alles zu sehen
Dolphins
Dream © 2003
Mein Dasein - es treibt nur im Nichts dieser Zeiten
Gedanken zerlaufen in Endlosigkeiten
Seh' Farben, die einstmals mein Sein noch durchzogen
im Atmen der Seele in rhythmischen Wogen
Weine um das, was einstmals ich sah
Weine, wenn's scheint für Momente so nah
Die Seele des Ichs treibt ins Suchen, am Ende
Sehnsucht, dass jemals den Anfang ich fände
Nur Sternenmelodie, dort, im Rauschen der Meere
des Nichts, das vielleicht einmal Alles wäre
zum
Download des Liedes (MP3 / DeGie) + Folgelied
|
Ende
Lessing
© 2003
Die Sonne scheint
hier leider nicht,
doch spendet trotzdem
reichlich Licht,
ein Strahler, der
frontal gerichtet,
mich pausenlos
brutal belichtet.
Die Sonne scheint
hier wirklich nicht,
wenn irgendwann
die Psyche bricht,
die nun, nach etwa
vierzehn Tagen,
nach Hunger, Durst und
vielem Schlagen
die letzte Kraft
in mir gebrochen
und ich, den Tod im
Angesicht,
geschunden, krank
und ohne Hoffen,
bereit bin,
alles preiszugeben.
Die Sonne scheint
hier wirklich nicht.
|
Weichen
Als das Leben vorbei war
reichte es Dir die Hand
und zog Dich fest zu sich zurueck
Oder warst Du es, die zog?
Wer vor dem Verhungern steht
studiert keine Speisekarten
Auch Du nicht
Der Zug ratterte
unaufhoerlich
zumindest zog er
so fragtest Du nicht nach den Weichen
In den Bahnhoefen sahst Du Dein Spiegelbild
wieder und wieder
verschwommen in der Glasfassade
doch wie Du Konturen erahntest
setzte sich der Zug wieder in Bewegung
geblieben nur
die vage Erinnerung
an ein Flimmern
Warst das Du?
Dieser Bahnhof ist anders
Die Gleise enden
Wieder ein Blick in die Scheibe
Doch das Glas laengst zersprungen
In den Scherben
nur noch ein Flimmern
und Du ahnst;
Das bist DU...
Der Weg zurueck zu Fuss
zurueck zur letzten Weiche
er wird schwer
und Du denkst an die zwei Koffer
sie haben nicht einmal Rollen...
Liegen lassen wirst Du sie nicht
Doch wer weiss:
Vielleicht bringen sie die Balance
die Dir zu fehlen scheint
denn die Beine sind stark genug
Gerne ist man Passagier
doch gibt es Wege
die kein Rad je durchquert
Die Weiche
Ich bin sicher, Du wirst sie erreichen
Was Du einst aus dem Fenster geworfen hast
weit vom Gleis kann es nicht sein...
Beim naechsten Zug wirst Du es laengst wissen:
Entferne Dich nie zu weit von den Weichen!
Man muss sie wohl schon stellen
Doch der Zweck ist nicht
dass der Zug ankommt
DIE Reisenden...
Als das Leben vorbei war
reichte es Dir die Hand
Ich hoffe, Du siehst:
Sie ist noch da!
© DeGie 23.03.2003 -
Für
Minouche
Audio-Version / MP3-Download ...
weiter
(feat. Minouche) ...
|