Lemminge

DeGie © 08.03.2003

 

 

So richtig wußte er eigentlich nicht, wie er auf diesen Hügel gekommen war.

Man war ganz oben, konnte das jedoch kaum merken, weil der ganze Horizont eigentlich 
aus dem endlosen flachen Rücken bestand. Und da, wo es etwas abschüssig zu sein 
schien, stoppten windgebeugte Baumriesen den Blick in die ewigen Weiten. Bäume, wie 
er sie für seinen Garten immer gewünscht hätte, doch hier paralysierten sie den 
ersehnten Blick in die Ewigkeiten.

Weiter westlich gab es einen Turm. Der könnte die Pforte sein.
Merkwürdiges Bauwerk.
Eigentlich sah er genau aus wie ein Sprungturm im Freibad.
Freilich höher.
Er zählte kurz...
Es waren über zwanzig Plateaus. 
irgendwie komisch. Wenn man schon den Turm erreicht hat, geht man doch wohl bis 
oben! 
Gleichwohl kaum eine Plattform unbesucht.
Dienten die Ebenen der Rast? Der Akklimatisation an immer neue Luftgemische, denen 
sich die Lunge erst noch zu erschließen hatte? 
Oder ist es vielleicht besser, den Auslick Stufe für Stufe zu erschließen, um die Sinne 
nicht zu überfluten?

Richtig merkwürdig war aber etwas anderes:
Es gab kein Geländer!
Gerne malt der Geist in solchen Momenten Szenarien einer Katastrophe aus.
Bizarre Gebilde der Phantasie: Ein Turm regnet Seelen...

Manchmal wird aber die Phantasie auch überholt.
Es ging so schnell.
Er hatte es kommen sehen, noch zwanzig Lidschläge, bevor der erste Stein ins Rollen 
gebracht wurde.
Er wollte noch etwas rufen, doch hätte es das alles nicht noch schlimmer machen 
können? 

Wissen, ob etwas überhaupt noch schlimmer hätte kommen können, kann man freilich 
erst, wenn schon alles vorbei ist.
"Mensch, Du bist zu dicht am Rand" dachte er noch. Rief, schrie, polterte eine Stimme 
aus ihm heraus, die den Schnecken menschlicher Ohren jedoch nicht zugänglich schien.

Dann fiel der erste. Fast die höchste Ebene.
Eigentlich wirkte es, als zöge ihn turbulenter Strudel, ein schwarzes Loch, eine 
geheimnisvolle Macht - was auch immer - talwärts.
Alles ging so schnell!
Als verlöre sich die Schwerkraft in chaotischem Pulsieren.
Oder können sie da oben nichts mehr hören?
Man sagt ja, ohne die Ohren wäre der Gleichgewichtssinn eingeschränkt.
Gleichwohl der Turm immer noch gerade stand, schien sich für die Menschen dort alles 
zu drehen.

Hunderte fielen. Obere, mittlere, schließlich auch untere Ebenen.
Drüben, am Fuße des Turmes, sah er sie zerschmettern. Ohne einen Laut.
Hatten Schutzreflexe seinen Gehörssinn bereits abgeschaltet?

Es wäre wohl auch unerträglich gewesen. 
Zu gut erinnerte er sich daran, wie er einmal davon wach geworden war, daß drei Etagen 
über ihm ein Fensterdurchbruch gemacht worden war. Dieser dumpfe Laut, den Steine 
machen, die aus größerer Höhe auf mittelharten Boden knallen, rhythmisch vermengt mit 
dem Knacken zerberstender Knochen ... 
So in etwa mußte es sich angehört haben.

-

Lange noch war er wie gelähmt.
Später - vielleicht waren Stunden vergangen - spulte sich der Film noch einmal im 
Zeitraffer ab. 
Oder hatte er von Anfang an im Zeitraffer stattgefunden?

Die auf den unteren Plattformen müssen wohl beim Vorbeiflug des ersten Fallenden 
gedacht haben, der Turm starte einer Rakete gleich gen Himmel. Vielleicht nur der 
verzweifelte Versuch, noch rechtzeitig abzuspringen.
Und lieber in den eigenen Rumpf gestaucht zu zermanschen, als auf ewig im 
Unendlichen gefangen zu sein.

-

Zunächst hatten noch vereinzelt ein paar verbliebene Passagiere auf den Plateaus 
gestanden.
Doch keiner von ihnen hatte sich Richtung Leiter bewegt. (Warum eigentlich nicht?)
Sie schienen erstarrt.
Ängstliche Blicke, irgendwann dann Resignation.
Ob sie gar nicht mehr wußten, daß da eine Leiter war?
Benutzt wurde sie nun gar nicht mehr, denn keiner wollte mehr hinauf. Einige starrten 
ihm gleich auf das Massengrab, andere liefen hektisch umher. Manche schienen auch so 
tun zu wollen, als sei nichts geschehen oder sie hätten zumindest nichts bemerkt.

-

Irgendwann fiel es ihm auf. Es gab eine Plattform, auf der man hätte überleben können:
Die höchste.
Wer die anderen nicht fallen sieht, hat irgendwann vielleicht des Ausblickes genug und 
steigt bereichert, doch völlig unbeschwert wieder hinab.
Die Leiter zum Leichenkeller.

-

Er suchte die Zeilen, die er gegen Ende der letzten Nacht nach dem Hochschrecken 
aufgeschrieben hatte und las sie noch einmal.



Der Tod am Morgen


Des Morgens manchmal stundenlang
mit kaltem Schwall Sirenen schreien
als wollten niemals sie verzeihen
im freien letzten Abgesang.


Mit lautem, grellem, warmem Rot
Im Glühen hell, sein Glimmen droht
mit Stimmen, die wohl nie verklingen
Verschwelt des Vogels letztes Singen.


Verkannt, zumeist nicht lang betrachtet
ein Geisterzug, ein hohler Baum
ein leiser Flug wie wohl der Traum
Das letzte Gleis glimmt rauchbefrachtet.


Hab Acht, wenn neunzehn Elfen singen
Sirenen bald wie Stimmen klingen
Im Wald, als wie die Wolken klagen
und zitternd nach dem Ausgang fragen.>


Bevor jedoch ein Wort verstanden ‘
Der Tag sich schreiend drängt davor
im Sarg gezwängt, verstummt der Chor
Ein Tor ward nicht vor Ort vorhanden.


Alsbald betäubt das Ohr Verstummen
Aus Schreien wird ein seichtes Summen
Aus Leuchten wird ein schwarzer Schein
Gebeugt, verflüchtigt, ohne Sein.



Hast Du einmal schon vernommen
Wie schnell wir zu Vergessen kommen
Und nichts mehr beizumessen neigen
den Zeichen, die verhüllt sich zeigen?


Das grelle Licht des ‚nicht gesehen‘
Die Weichen starr wie ungeschehen
Im Schleichen oftmals unbeachtet
Der Seele nach dem Leben trachtet.


-


Nein, auch jetzt verstand er sie nicht wirklich.
Er versuchte noch einmal kurz, auf dieser Bank zwischen Himmel und Erde, zwischen Tag und Nacht Platz zu nehmen.
Heute mußte sie gut besucht gewesen sein, doch wohl immer nur für kurz.
Niemand mehr zu sehen.
Heute konnte man wohl vielerorts nicht einmal über den Nachbarn oder den alten Bekannten trauern, wenn doch das eigene Kind, ein Elternteil, oder wer auch immer zu beklagen war.
Und die, die dicht am Schlüssel dran gewesen sein müssen, werden nichts mehr weitergeben können.
Es scheint wieder von Null loszugehen.

-

Doch nicht für ihn.
Er schaute ins Kinderzimmer.
Die Kleine lag dort immer noch unschuldig wie der Morgentau, und ihre rotierenden Brauen zeugten von spannenden Filmen, die wohl auf den Innenseiten ihrer Augenlider ablaufen mußten.
Ein Mädchen, das seit zwei Monaten keine Mutter mehr hatte.
Für einen kurzen Moment flackerte in ihm all die Freude auf, die es bedeutet, Leben geschaffen zu haben und begleiten zu dürfen.
Sieben Jahre Erinnerungen.
Viele waren auch wie Tränen, doch sie erinnern vielleicht auch daran, was wohl noch kommt.
Manches Gesicht wird man nicht mehr mit menschlichen Augen sehen, doch keines wird je wirklich verblassen.

"Schlaf schön, mein Liebstes," flüsterte er ihr leise ins Ohr, und ihm war, als hörte er ein leises Stimmchen in Rot zwitschern "Papa, ich hab Dich lieb!"

"Ich Dich auch," antwortete er wortlos mit kleinen keimenden Tränchen im Auge und verließ das Zimmer.

Drei Stunden noch, dann gibt 's Frühstück.
Und dann in den Zoo.
Schule wird geschwänzt, heute ist Feiertag.
Der Tag zwischen Himmel und Erde.

(Inspiration und Gedicht: 19.12.00; aufgeschrieben am 08.03.03.
Die Bank habe ich mir natürlich ungefragt von Karma ausgeliehen.
Kost ja nix, höhö!)

Epilog:
Frühlingsgefühle
zwischen die Stühle
Kätzchen weiden nimmermüde
gern zu mir nach Haus einlüde

 

Nicht verschickt - 149 x gelesen - Lyrikecke 10.03.2003-03.06.2003
Kopieren ohne Zustimmung von DeGie untersagt!

 

8 Kommentare:

 

 

 

Karma
17.03.03 07:35


So so, DeGie
meine Bank?
Und ich laufe wie bekloppt in der City rum um die zu suchen.
Du bist ein Fuchs.
Fuchs du hast die Bank gestohlen...
;)

Nun aber mal ernsthaft.
Eine seltsame Geschichte, ein Traum?
Nicht einfach zu lesen bin ziemlich verwirrt.
Ich versuchs noch mal.
Gruß, Karma

DeGie
17.03.03 10:57


Moinauch Karma!
Hast schon recht, der Kern der Geschichte war eine Traumvision.
Das Gedicht scheint nicht so viel damit zu tun zu haben, ist mir aber am nächsten Tag ziemlich fix (halbe Stunde) gekommen. Muß aber dazu sagen, daß ich am Vortag "Wenn die Sonne den Mond bewohnt", ein mir wichtigeres Teil, geschrieben hatte. Ist oft am Tag danach so, daß mein Geist noch immer reimt.
Das Ende ist mir erst am Tag des Aufschreibens eingefallen.

Freut mich natürlich, Dich zu verwirren!
Die Bank kannze getz zurück haben...ach so, leider nix mehr drauf....der Ferrari hat mich so angelacht....scheiß Leitplanke....

Karma
17.03.03 11:13


Ja, Ja,
lach du nur, sich auch noch drüber zu freuen, wenn ich (ein wenig) verwirrt bin.
Ersma de Bank klauen und dann noch leer zurückgeben.
Immer diese Abräumer. ;)
Abba watte nich weiß, da ist noch Pfand drauf. Hihi

DeGie
17.03.03 12:00


Ach, Du meinst die Gabriele?
Die war mir zu schwer...

Lessing
26.03.03 06:14


Hi, DeGie...

nun will ich mir nicht anmaßen, psychologische Bewertungen abgeben zu können - also sieh mir nach, wenn es denn total in die Hose geht:

Aus Deiner Geschichte lese ich - wirr wie die meisten Träume - eine ohnmächtige Sehnsucht nach Liebe und auch eine verborgene Angst vor dem Leben. Diese beiden Gefühle kompensieren sich in einem deutlich erkennbaren Sarkasmus, der lyrisch umschrieben, Sehnsucht und Angst übermalen soll.

Um die Geschichte wirklich verstehen zu können, muss man wohl Deine Persönlichkeit kennen. So ist alles, was ich dazu schreiben kann, ein 'gefühlter Versuch' ohne Anspruch auf Richtigkeit.

Mir kam es beim Lesen vor, als würde ich die Geschichte eines Menschen sehen, der vor seiner eigenen Schwäche fürchtet - diese Schwäche aber nicht erkennen lassen will.

Wie gesagt: subjektiv und sicher auch falsch. Aber so hab ich's eben empfunden. Der ins Schwarze gleitende Humor ist zwar zu sehen, doch ist er nicht die Motivation für die Geschichte, denke ich...

Hab jetzt viel Blödsinn geschrieben, oder?

Grüße von Lessing, der manchmal seine eigenen gelebten und geschriebenen Geschichten nicht verstehen kann...

DeGie
26.03.03 09:42


Moin, lieber Lessing,
danke, daß Du Dir mal Gedanken gemacht hast.
Finde mich für den Moment aber nicht wieder.
Die Traumvision ist schon etwas älter und ich habe sie so gut wiedergegeben, wie ich konnte.
Das Gedicht kommt eher vom Moment und ist Zeitzeuge der Zeit, wo mich des nachts vieles bewegt hat, nicht nur Alpträume.
Habe die Geschichte aber definitiv nicht aufgeschrieben, um was von mir zu erzählen, sondern um mit den Gedankengängen des Traumes zu inspirieren. Wenn was Persönliches von mir drin ist, dann Gedanken über den Tod und das Streben nach Höherem, die ich mir wohl damals gemacht habe.

Das mit der Schwäche hinter Sarkasmus verbergen habe ich ja schon einmal so ähnlich in Ottos Komm zum Tagebuch des Mondes gelesen.
Es ist aber eher so, daß ich an Wortspielen schwer nur vorbei komme, wenn sie mir gerade einfallen. Kann schon sein, daß ich das unbewußt mache, um mich selber aufzuheitern, aber ganz sicher nicht, um Schwäche zu verbergen.
"Wenn gestern morgen heute wär" sollte z.B. einfach traurig-melancholisch sein, und dann überkamen mich die Spielereien mit dem Konjunktiv, die ich dann so aufschrieb, wie sie eben kamen. Mir persönlich ist es eigentlich lieber, wenn melancholische Sachen nicht unterbrochen werden. Habe aber auch schon in tieftrauriger Empörung einen Brief geschrieben, von dem ich mir sicher war, es sei diesmal absolut nichts Witziges drin, über den ich mich am nächsten Tag indes schlapplachen konnte.

Das Verfassen der Rekomms findet hingegen meistens in völlig anderer Stimmung statt als das der Gedichte, und die Komms leben ja auch von Faxeb.
Wenn jemand anderes etwas Traurigeres geschrieben hat, muß man da natürlich sehr sensibel mit umgehen, aber bei eigenen Sachen nicht so.

Der Grund, warum ich Dich gebeten habe, mir einen Komm hier zu schreiben, war eher der, daß Du ja ein Experte für Kurzgeschichten bist (von denen ich sicher noch so manche lesen werde) und ich gerade bei dieser Geschichte überhaupt nicht beurteilen kann, ob sie gut geschrieben ist und den Leser mitreißt, inspiriert.

Aber man trifft sich ja sicher noch in den Komms,
LiGrü,
DeGie

DeGie
26.03.03 09:46


Ein Nachsatz, lieber Lessing:
"Ohnmächtige Sehnsucht nach Liebe" stimmt sicherlich. Das stimmt sogar dann, wenn ich viel davon empfangen darf, wie oftmals in den letzten Wochen.

Lessing
26.03.03 10:54


Nachsatz zum Nachsatz:

die schönste Sehnsucht... ist die erfüllte, DeGie. Lessing.

 

"Wenn Gestern heute Morgen wär"
 mit 2 Originalkommentaren
feat. Dolphins Dream

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