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So richtig wußte er eigentlich nicht, wie er auf diesen Hügel gekommen war.
Man war ganz oben, konnte das jedoch kaum merken, weil der ganze Horizont eigentlich
aus dem endlosen flachen Rücken bestand. Und da, wo es etwas abschüssig zu sein
schien, stoppten windgebeugte Baumriesen den Blick in die ewigen Weiten. Bäume, wie
er sie für seinen Garten immer gewünscht hätte, doch hier paralysierten sie den
ersehnten Blick in die Ewigkeiten.
Weiter westlich gab es einen Turm. Der könnte die Pforte sein.
Merkwürdiges Bauwerk.
Eigentlich sah er genau aus wie ein Sprungturm im Freibad.
Freilich höher.
Er zählte kurz...
Es waren über zwanzig Plateaus.
irgendwie komisch. Wenn man schon den Turm erreicht hat, geht man doch wohl bis
oben!
Gleichwohl kaum eine Plattform unbesucht.
Dienten die Ebenen der Rast? Der Akklimatisation an immer neue Luftgemische, denen
sich die Lunge erst noch zu erschließen hatte?
Oder ist es vielleicht besser, den Auslick Stufe für Stufe zu erschließen, um die Sinne
nicht zu überfluten?
Richtig merkwürdig war aber etwas anderes:
Es gab kein Geländer!
Gerne malt der Geist in solchen Momenten Szenarien einer Katastrophe aus.
Bizarre Gebilde der Phantasie: Ein Turm regnet Seelen...
Manchmal wird aber die Phantasie auch überholt.
Es ging so schnell.
Er hatte es kommen sehen, noch zwanzig Lidschläge, bevor der erste Stein ins Rollen
gebracht wurde.
Er wollte noch etwas rufen, doch hätte es das alles nicht noch schlimmer machen
können?
Wissen, ob etwas überhaupt noch schlimmer hätte kommen können, kann man freilich
erst, wenn schon alles vorbei ist.
"Mensch, Du bist zu dicht am Rand" dachte er noch. Rief, schrie, polterte eine Stimme
aus ihm heraus, die den Schnecken menschlicher Ohren jedoch nicht zugänglich schien.
Dann fiel der erste. Fast die höchste Ebene.
Eigentlich wirkte es, als zöge ihn turbulenter Strudel, ein schwarzes Loch, eine
geheimnisvolle Macht - was auch immer - talwärts.
Alles ging so schnell!
Als verlöre sich die Schwerkraft in chaotischem Pulsieren.
Oder können sie da oben nichts mehr hören?
Man sagt ja, ohne die Ohren wäre der Gleichgewichtssinn eingeschränkt.
Gleichwohl der Turm immer noch gerade stand, schien sich für die Menschen dort alles
zu drehen.
Hunderte fielen. Obere, mittlere, schließlich auch untere Ebenen.
Drüben, am Fuße des Turmes, sah er sie zerschmettern. Ohne einen Laut.
Hatten Schutzreflexe seinen Gehörssinn bereits abgeschaltet?
Es wäre wohl auch unerträglich gewesen.
Zu gut erinnerte er sich daran, wie er einmal davon wach geworden war, daß drei Etagen
über ihm ein Fensterdurchbruch gemacht worden war. Dieser dumpfe Laut, den Steine
machen, die aus größerer Höhe auf mittelharten Boden knallen, rhythmisch vermengt mit
dem Knacken zerberstender Knochen ...
So in etwa mußte es sich angehört haben.
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Lange noch war er wie gelähmt.
Später - vielleicht waren Stunden vergangen - spulte sich der Film noch einmal im
Zeitraffer ab.
Oder hatte er von Anfang an im Zeitraffer stattgefunden?
Die auf den unteren Plattformen müssen wohl beim Vorbeiflug des ersten Fallenden
gedacht haben, der Turm starte einer Rakete gleich gen Himmel. Vielleicht nur der
verzweifelte Versuch, noch rechtzeitig abzuspringen.
Und lieber in den eigenen Rumpf gestaucht zu zermanschen, als auf ewig im
Unendlichen gefangen zu sein.
-
Zunächst hatten noch vereinzelt ein paar verbliebene Passagiere auf den Plateaus
gestanden.
Doch keiner von ihnen hatte sich Richtung Leiter bewegt. (Warum eigentlich nicht?)
Sie schienen erstarrt.
Ängstliche Blicke, irgendwann dann Resignation.
Ob sie gar nicht mehr wußten, daß da eine Leiter war?
Benutzt wurde sie nun gar nicht mehr, denn keiner wollte mehr hinauf. Einige starrten
ihm gleich auf das Massengrab, andere liefen hektisch umher. Manche schienen auch so
tun zu wollen, als sei nichts geschehen oder sie hätten zumindest nichts bemerkt.
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Irgendwann fiel es ihm auf. Es gab eine Plattform, auf der man hätte überleben können:
Die höchste.
Wer die anderen nicht fallen sieht, hat irgendwann vielleicht des Ausblickes genug und
steigt bereichert, doch völlig unbeschwert wieder hinab.
Die Leiter zum Leichenkeller.
-
Er suchte die Zeilen, die er gegen Ende der letzten Nacht nach dem Hochschrecken
aufgeschrieben hatte und las sie noch einmal.
Der Tod am Morgen
Des Morgens
manchmal stundenlang
mit kaltem Schwall Sirenen schreien
als wollten
niemals sie verzeihen
im freien letzten Abgesang.
Mit lautem, grellem,
warmem Rot
Im Glühen hell, sein Glimmen droht
mit Stimmen, die wohl nie verklingen
Verschwelt des Vogels letztes Singen.
Verkannt,
zumeist nicht lang betrachtet
ein
Geisterzug, ein hohler Baum
ein leiser
Flug wie wohl der Traum
Das letzte Gleis glimmt rauchbefrachtet.
Hab Acht,
wenn neunzehn Elfen singen
Sirenen
bald wie Stimmen klingen
Im Wald,
als wie die Wolken klagen
und
zitternd nach dem Ausgang fragen.>
Bevor
jedoch ein Wort verstanden
Der Tag
sich schreiend drängt davor
im Sarg
gezwängt, verstummt der Chor
Ein Tor
ward nicht vor Ort vorhanden.
Alsbald betäubt
das Ohr Verstummen
Aus
Schreien wird ein seichtes Summen
Aus
Leuchten wird ein schwarzer Schein
Gebeugt, verflüchtigt, ohne Sein.
Hast Du
einmal schon vernommen
Wie schnell
wir zu Vergessen kommen
Und nichts
mehr beizumessen neigen
den Zeichen,
die verhüllt sich zeigen?
Das grelle
Licht des nicht gesehen
Die Weichen
starr wie ungeschehen
Im
Schleichen oftmals unbeachtet
Der Seele
nach dem Leben trachtet.
-
Nein, auch jetzt verstand er sie nicht wirklich.
Er versuchte noch einmal kurz, auf dieser Bank zwischen Himmel und Erde,
zwischen Tag und Nacht Platz zu nehmen.
Heute mußte sie gut besucht gewesen sein, doch wohl immer nur für kurz.
Niemand mehr zu sehen.
Heute konnte man wohl vielerorts nicht einmal über den Nachbarn oder den
alten Bekannten trauern, wenn doch das eigene Kind, ein Elternteil, oder wer
auch immer zu beklagen war.
Und die, die dicht am Schlüssel dran gewesen sein müssen, werden nichts mehr
weitergeben können.
Es scheint wieder von Null loszugehen.
-
Doch nicht für ihn.
Er schaute ins Kinderzimmer.
Die Kleine lag dort immer noch unschuldig wie der Morgentau, und ihre
rotierenden Brauen zeugten von spannenden Filmen, die wohl auf den
Innenseiten ihrer Augenlider ablaufen mußten.
Ein Mädchen, das seit zwei Monaten keine Mutter mehr hatte.
Für einen kurzen Moment flackerte in ihm all die Freude auf, die es bedeutet,
Leben geschaffen zu haben und begleiten zu dürfen.
Sieben Jahre Erinnerungen.
Viele waren auch wie Tränen, doch sie erinnern vielleicht auch daran, was
wohl noch kommt.
Manches Gesicht wird man nicht mehr mit menschlichen Augen sehen, doch keines
wird je wirklich verblassen.
"Schlaf schön, mein Liebstes," flüsterte er ihr leise ins Ohr, und
ihm war, als hörte er ein leises Stimmchen in Rot zwitschern "Papa, ich
hab Dich lieb!"
"Ich Dich auch," antwortete er wortlos mit kleinen keimenden
Tränchen im Auge und verließ das Zimmer.
Drei Stunden noch, dann gibt 's Frühstück.
Und dann in den Zoo.
Schule wird geschwänzt, heute ist Feiertag.
Der Tag zwischen Himmel und Erde.
(Inspiration und Gedicht: 19.12.00; aufgeschrieben am 08.03.03.
Die Bank habe ich mir natürlich ungefragt von Karma ausgeliehen.
Kost ja nix, höhö!)
Epilog:
Frühlingsgefühle
zwischen die Stühle
Kätzchen weiden nimmermüde
gern zu mir nach Haus einlüde
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