(Ge-)Fallsucht - eine Kurzgeschichte von Minouche / Prosa

(Ge-)Fallsucht 

Minouche © 2004

 

 

Braune Augen und kohlpechrabenschwarze Locken. Sein Alter schätzt sie auf ungefähr 25 Jahre. Er hat wirklich eine fantastische Figur. Wie ein Tänzer, durchtrainiert und kein Gramm Fett zuviel. Es kribbelt sie im Bauch, während sie ihn beobachtet. Aber der daneben ist auch nicht schlecht. Allerdings hat er blonde Haare, und sie liebt es eher dunkel. Als er sich etwas dreht, fällt ihr auf, dass er ein leicht fliehendes Kinn hat. Noch ein Attribut, dass ihr nicht gefällt. Solche Menschen haben kein Rückrat, hat sie gelesen. Ob es wohl stimmt? Also doch lieber die braunen Augen und die schwarzen Locken.

Geschmeidig bewegt sie sich zwischen den vielen Menschen in dem Kaufhaus. Sie schlängelt sich an den Körpern vorbei, ohne auch nur einen davon zu berühren. Sie tanzt einen Tanz, der den Blicken anderer verborgen ist. Denn sie ist eine Primaballerina und hatte eine sehr gute Ausbildung. Oh, sie liebt das Ballett, oh ja! Seit ihrem vierten Lebensjahr, tanzt sie ihr Leben. Sie denkt in Pirouetten, jede ihrer Bewegungen ist Geschmeidigkeit und Anmut, und sie braucht auch nicht den Beifall der Zuschauer, so wie ihre anderen Kolleginnen und Kollegen. Die sind ja publikumsgeil, alle! Sie braucht keinen Applaus, nein. Denn sie tanzt nicht Ballett, sie ist Ballett. Für sie könnte der Ausdruck geschaffen worden sein. Tschaikowsky, Strawinsky, Rimski-Korsakow, haben ihre Musik nur für sie komponiert, und sie klingt immer in ihrem Kopf.

Nun hat sie ihn erreicht. Ahnungslos blättert er in einem Buch. Was er wohl liest? Unauffällig schaut sie auf den Einband. Ah, ein Reisebericht. Tunesien. So, so. Dorthin möchte sie auch gern einmal. Dort war sie noch nicht. Aber sie kennt viele der großen Metropolen. Wien, Mailand, Petersburg, London und noch viele, viele mehr. Ihre Auftritte führten sie rund um die Welt, nur noch nicht nach Tunesien.

Ihre Gedanken schweifen ab, sie ruft sich zur Ordnung. Schließlich hat sie einen Plan, nicht wahr? Wenn sie nicht bald etwas unternimmt, geht er vielleicht fort und dann war alles umsonst.

Atmen. Flach ein, ganz tief aus. Atmen. Stärker. Flach ein, tief aus. Ihr Herzschlag beschleunigt sich. Sie spürt das Adrenalin in ihrem Blut. Es hilft ihr bei ihrem Vorhaben, sie kennt und liebt diese Adrenalinschübe. Weiter atmen. Schneller atmen, aber so, dass niemand es bemerkt. Nun ist es fast so weit. Sie hört das Rauschen in ihren Ohren, wie die Brandung des Meeres, untermalt von Musik. Die Stimmen um sie herum werden leiser, sie hört sie wie durch eine Wattewand. Und weiteratmen. Flacher, noch flacher, noch tiefer ausatmen, bis ihre Lunge ganz leer ist. Das jahrelange Balletttraining hilft ihr dabei, sie hat Atmen gelernt.

Es ist soweit, ihr wird schwindelig. So. Nun auf die Körperkoordination achten. Ausfallschritt nach links, zu den braunen Augen, den schwarzen Locken hin. Leichte Drehung. Die Arme nach oben. Dann langsam, langsam in die Hocke, ein letztes Mal tief ausatmen. Sie fällt ins Bodenlose. Wartet auf Bodenkontakt. Dann Schwärze.

Als sie wieder zu sich kommt, sieht sie in blaue Augen. Oh nein! Und auch noch Frauenaugen, so hatte sie es nicht geplant. Sie liegt in den Armen von irgendjemandem. In den Armen einer Frau? Es sind blaue Frauenaugen. Verwirrt dreht sie den Kopf zur Seite.
Hände umfassen sie, schwarze Haare auf den Handrücken, lange gelenkige Finger. Hier stimmt etwas nicht, denn das sind ganz sicher keine Frauenhände ! Langsam werden die Konturen um sie herum schärfer und sie sieht viele Gesichter, die auf sie herabblicken. Das Gesicht, das ihr am nächsten ist, hat blaue Augen und gehört einer Frau, soweit ist alles klar. Aber sie liegt in den Armen eines Mannes. Angestrengt versucht sie, unter den vielen Gesichtern um sie herum, braune Augen und schwarze Locken zu finden.

„Geht es Ihnen gut, alles in Ordnung?“ Fragt eine Stimme hinter ihr. Dann wird sie behutsam herumgedreht. „Oh, je, es ist wieder passiert,“ flüstert sie und ihr Herz macht einen Satz. Die Hände, die sie halten, gehören zu den braunen Augen, den schwarzen Locken. Innerlich jubelt sie, ihr Plan hat geklappt ! Aber warum auch nicht, sie macht das ja nicht zum ersten Mal. Sie ist ein Profi im Ohnmächtigwerden. „Kommen Sie, ich bringe Sie vor die Tür, dort ist frische Luft, die wird Ihnen gut tun. Können Sie allein gehen?“ Sie sieht ihn flehentlich an und versucht auf die noch wackeligen Füße zu kommen. Aber bitte anmutig und graziös, wie es sich für eine Primaballerina gehört. „Warten Sie, ich stütze Sie.“ Er legt einen Arm um sie, oh, welch wunderbares Gefühl! Sie schmiegt sich in seine Arme und haucht „Danke. So etwas Dummes aber auch, immer passiert mir so etwas!“ Er lächelt sie an, sie ertrinkt in diesen braunen Augen und dieses Lächeln - wie unerträglich schön er ist! Sie möchte nun gar nichts mehr, nur noch in seinen Armen bleiben für den Rest ihres Lebens.

Die frische Luft vor der Tür tut ihr gut. „Sie haben mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt“ sagt er und lächelt sie schon wieder so unglaublich an. „Fast wären Sie gefallen, ich fing Sie im letzten Moment auf. Sie gehören in ärztliche Behandlung, wenn Sie sagen, dass Ihnen das öfter passiert.“ Nun ein leichter Vorwurf in seinen Augen. Oh, er ist tatsächlich besorgt um sie. Sie fühlt sich geschmeichelt.

Plötzlich erstarrt sie. Oh, nein! Oh bitte doch nicht jetzt! Ein Mann kommt auf sie zugelaufen. Ein alter Mann, er sieht sehr besorgt aus. Tiefe Falten haben sich eingegraben in seine Mundwinkel. „Luise, da bist du ja! Ich habe dich im ganzen Kaufhaus gesucht!“ „Ihre Frau?“ fragt ihr Retter. „Oh, ja, meine Frau. Und sie hat es schon wieder getan!“ seufzt der alte Mann und lächelt kummervoll. „Wissen Sie, sie tut das häufiger. Sie kann es einfach nicht lassen, jungen Männern den Kopf zu verdrehen.“

Sie fühlt sich gedemütigt. Denunziert. Muss Karl denn so taktlos sein? Er hat einfach kein Feingefühl. Plötzlich fühlt sie sich alt. Sie spürt die ganze Last von 80 gelebten und getanzten Jahren auf ihrem Rücken.

„Komm, wir gehen, mein Herz“ sagt Karl und nimmt ihren Arm. Sehnsüchtig blickt sie noch einmal in die braunen Augen, streichelt im Geist über die schwarzen Locken des jungen Mannes. „Adieu, mein Schöner“ denkt sie für sich. Dreht sich um und geht.




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