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Dunkel glühender Stern

Minouche © 2004


Schon wieder so ein grauer, nebelverhangener Tag. Die Luft trieft vor Feuchtigkeit. Sie hasst dieses Wetter, es legt sich auf ihre Seele wie eine schwere, nasse Wolldecke, nimmt ihr die Luft zum Atmen.

Missmutig geht sie vor die Tür und holt die Zeitung aus dem Briefkasten. Das Bild eines brennenden Hauses schreit ihr auf der Titelseite entgegen. Darüber liest sie in Fettschrift: „Familienhaus abgebrannt, 5 Bewohner nur noch tot aus den Flammen geborgen.“ Die Schlagzeile passt zu dem Regengrau.

Sie brüht sich einen Kaffee auf und setzt sich mit der Zeitung an den Küchentisch. Durch das Fenster dringt kaum Tageslicht. Es ist Vormittag und zu dunkel zum Zeitung lesen. "Diese Jahreszeit ist nur deprimierend", denkt sie und knipst das Licht an. Sofort wird der kleine Raum von grellem Neonlicht geflutet, das ihr ins Gehirn beisst.

Sie schlägt die Zeitung auf und liest den Artikel unter der Schlagzeile mit dem brennenden Haus. Sie wird noch deprimierter, bricht nach der Hälfte des Artikels ab. Sie liest die Politikseiten diagonal, weil es sie langweilt, was irgendwelche Politiker daherreden, den Lokalteil überfliegt sie schnell. Das Beste hebt sie sich bis zum Schluss auf, das macht sie immer so. Den Anzeigenteil. Dort sind sie, all die Toten, Leute, die geheiratet haben, Verlobungen und Geburtsanzeigen. Eine Frau Lieselotte Müller ist gestorben, 90 Jahre alt. "Na, ja", denkt sie, "Ein gelebtes Leben..." Daniel Niebuhr ist auch tot, 6 Jahre alt. Sie liest den kleinen Text über dem Namen: „Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können.“ Antoine de Saint-Exupéry. Den liebt sie sehr.

Unter dem Text steht: Ein tragischer Verkehrsunfall hat ihn uns genommen. Unser Schmerz ist grenzenlos.

Sie spürt Tränen hinter ihren Augen brennen. Nein, dann doch lieber Sabine Willemsen und Thomas Widekind. Wir haben uns getraut. Sie möchte sich auch trauen. Mit jemandem, der sie liebt

Doch da! Da war sie! Wieder eine! Nach so einem Tagesanfang hat sie nicht damit gerechnet, dass es Lichtblicke geben könnte! Aufgeregt vertieft sie sich in die Zeilen des Inserates.

„Dunkel glühender Stern, ich warte auf dich. Du bist das Feuer meiner Seele, dass sich für immer eingebrannt hat in mein Herz. Ich will in dir verglühen! Komm bitte endlich! Ich warte schon so lange auf dich!
Heute, McDonalds-Parkplatz, 20.00 Uhr, gleicher Ort, gleiche Zeit. Bitte komm!
Dein Karim.

Seufzend lehnt sie sich auf dem Stuhl zurück und lässt die Worte auf sich wirken. Wie immer verfehlen sie ihre Wirkung nicht. Ihr Herz schlägt schnell, unregelmäßig, ihr Blut rauscht durch ihre Adern wie flüssige Lava, ihr Kopf wird angenehm leicht und schwebend leer. Sie bekommt eine Gänsehaut auf den Armen, auf ihrer Seele. Karim. Das ist nun schon die fünfte Anzeige, die er in die Zeitung setzt. Sie stellt sich vor, dass er sie meint mit diesem Inserat, dass sie es wäre, die er gesehen hat, in die er sich verliebt hat. Ein einziges Mal nur will sie angesprochen sein von solchen wunderschönen und poetischen Worten.
Aber wen immer er damit wohl meinen mag, anscheinend wartet er bis jetzt umsonst auf diesem Parkplatz.

Wie schon so oft fragt sie sich, wer sich wohl verbergen mag hinter Karim. Der Name hört sich ausländisch an, italienisch? Nein, wohl eher arabisch - türkisch vielleicht. Wie er wohl aussieht? Bestimmt hat er schwarze Haare, dunkle Augen. Sie liebt dunkle Augen. Ist er dick? Dünn? Wie alt ist er wohl? In ihrem Alter? 30 Jahre und noch solo? So wie sie? Einsam? So wie sie?

Ein Gedanke schießt ihr durch den Kopf, so verwegen und ungeheuerlich, dass sie sich nicht traut, ihn weiterzudenken,ihn gleich wieder verwirft.

Trotzdem findet sie sich fünf Minuten später vor ihrem Kleiderschrank wieder und weiß nicht, wie sie dorthin gekommen ist. Nein! Unmöglich!

Entschlossen geht sie zurück in die Küche. Aber ihre Ruhe ist dahin. Der Gedanke in ihrem Kopf hat sich aufgeblasen und füllt nun alles in ihr aus. Sie kann an nichts anderes mehr denken. Sie will das Kaffeepulver wegräumen und stellt es in den Kühlschrank. Sie will die Kaffeetasse in die Spülmaschine räumen und vergisst, den kalten Rest darin, vorher auszugießen. Der Küchenboden schwimmt in schwarzen Pfützen. Karim. Dunkel glühender Stern. Ihre Gedanken kreisen nur um diese fixe Idee in ihrem Kopf. Sie schaltet den Fernseher ein, versteht kein Wort, von dem, was gesprochen wird. Sie nimmt sich ein Kreuzworträtsel, setzt sich in die Küche und versucht, es zu lösen. Doch vor ihren Augen verschwimmen die Buchstaben zu arabischen Schriftzeichen mit dunklen Augen und sie liest: Komm bitte! Ich warte! Dein Karim.

Ruhelos tigert sie durch ihre Wohnung, immer hin und her, in langen Schritten. Es kribbelt überall, Schwärme von Schmetterlingen fliegen in ihrem Bauch. Karim. Es wird Nachmittag, der Abend rückt näher. Nein. Nicht einmal daran denken. "Ein Bad wäre jetzt wohl das Richtige", überlegt sie. Sie nimmt den teuren Badeschaum, den ihre Eltern ihr zu Weihnachten geschenkt haben.
"Etwas für besondere Gelegenheiten", sagte ihre Mutter verschwörerisch und zwinkerte ihr zu.
Sie hält es 20 Minuten in der Wanne aus, während Karims Worte als Endlosschleife in ihrem Gehirn laufen. Dann geht sie wieder zu ihrem Kleiderschrank und wühlt alles an Sachen heraus, was sich darin befindet. Sie probiert verschiedene Kombinationen aus, fühlt sich in keiner wohl. Aber nein. Es ist ja eh alles hypothetisch. Schließlich zieht sie sich Jeans an und ein T-Shirt.

Dann läuft sie ins Badezimmer zurück und föhnt sich die Haare. Sie schaute auf die Uhr: 19.00 Uhr. Noch eine Stunde bis Karim. Was tut sie hier eigentlich? Sie fühlt sich wie dirigiert von irgendjemand anderem, sie steht neben sich und sieht einer fremden Frau zu, die sich schön macht für einen Mann, den sie nicht kennt. Diese fremde Frau kommt ihr vage bekannt vor - und auch wieder nicht. Diese Fremde macht ihr Angst. Sie blickt in den Spiegel und sieht jemanden mit blonden Haaren und grünen Augen. Sie schminkt sich eine Maske in ihr Gesicht, damit sie nicht jeder gleich erkennen kann. Vor allen Dingen Karim nicht.

Sie ist fertig und schaut wieder auf ihre Armbanduhr: 19.45 Uhr. Es ist nicht weit bis zu McDonalds. 5 Minuten Fahrt. Der Zweifel, die Unsicherheit und die Angst versuchen sie festzuhalten in ihrer Wohnung, doch sie schiebt sie entschlossen von sich weg und geht.
Ihr uralter Renault wartet schon auf sie. Sie setzt sich hinein, steckt den Schlüssel in das Schloss und startet. Das Auto leiert etwas, gibt dann mit einem Seufzen auf. Sie zieht den Choke heraus, langsam mit Gefühl, nicht leicht, wenn die Hände so zittern und gibt vorsichtig Gas. Der Motor hustet kurz, stirbt wieder ab.
"So", denkt sie sich, "wenn er jetzt nicht anspringt, nehme ich es als Omen und bleibe hier." Noch einmal startet sie den Motor und gibt vorsichtig etwas Gas. Er würgt und hustet noch einmal, springt dann endlich an. Soviel zum Schicksal. Kismet. Sofort steht ihr Karim wieder vor Augen. Dunkel glühender Stern. Komm!

Sie ist um fünf Minuten vor acht auf dem Parkplatz. Ihre Augen schweifen umher, suchen Karim. Ein Ehepaar mit Kindern, die zu McDonalds gehen. Ein älterer Mann, offensichtlich in Eile, ein junges Paar, aber er ist blond. Nein, das kann nicht Karim sein. Mit quälender Langsamkeit schieben sich die Minutenzeiger auf dem Ziffernblatt ihrer Uhr vorwärts. Als es genau acht Uhr ist, will sie nur noch weg von hier. Ein schwarzer Honda Civic fährt auf den Parkplatz. Den will sie noch abwarten, dann nach Hause fahren. Aus dem schwarzen Honda steigt ein junger Mann. Er hat schwarze kurze Haare, seine Augen kann sie nicht sehen, da er ihr den Rücken zuwendet. Er ist schlank und groß. Dann dreht er sich um und blickt auf seine Uhr. Karim! Er muss es einfach sein! Er hat ein glattrasiertes Gesicht mit klaren Zügen, einen braunen Teint und knallschwarze Augen, mit denen er den Parkplatz absucht nach einem dunkel glühenden Stern.

Sie will aussteigen, doch sie kann nicht. Ihre Beine gehören ihr nicht mehr, sie gehören einer Schlenkerpuppe. Sie kann nicht laufen auf diesen Beinen. Also bleibt sie sitzen, während die Gedanken in ihrem Kopf sich jagen wie Wolken in einem sturmgepeitschten Himmel.

Nun ist schon eine halbe Stunde vergangen, er steht immer noch geduldig dort und wartet. Dann sieht er wieder auf die Uhr und seine Augen werden traurig. Er dreht sich um, will offensichtlich in sein Auto steigen. "Nein! Nein! Nicht wegfahren!" schreit sie innerlich, schafft es endlich auszusteigen. Ihr Herz hämmert, ihr Kopf schwirrt, sie kann nicht mehr denken. „Warte bitte!“ ruft sie über den Parkplatz. Er dreht sich um und blickt sie an. Seine Augen sind fragend, erstaunt. Und sehr dunkel.

Sie will etwas sagen und bringt nichts heraus. Die Worte haben sich hinten in ihrem Hals zu einem dicken Klumpen verknotet. „Kennen wir uns?“ fragt er. Sie stottert los: Ja..äh..nein, ich meine...doch....das Inserat in der Zeitung, Dunkel glühender Stern. Die Worte...ich fand sie, fand die Worte..schön!“ „Aber du warst nicht gemeint. Die Frau, der das Gedicht galt, ist nicht gekommen. Ich bin nun schon das fünfte Mal hier und warte. Ich glaube, ich gebe es nun auf, sie wird nicht mehr kommen, vielleicht liest sie keine Zeitung, und ich weiß nicht wie sie heißt.“ Er spricht einen leichten Akzent, rollt das „R“ tief hinten im Hals, sie liebt den Akzent, die Stimme, diese Augen.

"Aus!", denkt sie. Sie hat sich in höchstem Maße lächerlich gemacht. Sie schämt sich in Grund und Boden, will nur noch weg hier. Sie ist eben kein dunkel glühender Stern, nur eine dumme Person, die sich einbildet, ja, was eigentlich? Dass er sich Knall auf Fall in sie verlieben würde? Seinen Stern vergessen würde, wegen ihr? Betreten sieht sie auf den Boden. „Es tut mir leid“ sagt sie, „ich weiß, dass nicht ich gemeint war, ich war neugierig auf den Schreiber dieser schönen Gedichte, ich lese sie schon eine ganze Weile.“

Er sieht sie an und lächelt. „Du hast es gemocht?“

„Ja, sehr...“, sagt sie unsicher. Er geht auf sie zu und streckt ihr die Hand hin „Hallo, ich bin Karim.“

Sie ergreift seine Hand und antwortet leise: „Ich weiß.“



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