Das Phantom, der Opa und Rucke, die Kuh
Ich kann Lyrik nicht ausstehen!
Metapher
Markus
Veith ©
In einem Wald aus versteckten,
knorrig jungen Bäumen,
hinter nicht vorhand'nen
ungesuchten Schaumflaumträumen,
pflückt meine zu bereite
und abgebrannte Hand
schwarze Sonnenblumenfelder
aus buntem Nesselstrand.
Ein Tal dahinter, in den Bergen,
in die zu viele Pfade führen;
leicht zu finden, aber steinig,
und ein Schaf nimmt Maut-Gebüren
Aus ´nem Stausee bimmeln Glocken
Die Fische fasten an Kirchentagen
Am Ufer sitzen Bahnhofswärter,
die Streifen von den Schranken nagen
Sie trinken lauen Tee
aus Rum und Möhrensaft.
Denn er gibt dem Herzen Mut
und den blinden Augen Kraft.
An heißen Gläsern Pulvermilch
(mit Honig oder ohne),
verbrennen sie sich ihre Mäuler
und kühlen mit Zitrone.
Alle Züge führ'n nach hinten.
Letzte Ausfahrt in die Welt.
Rosa Zuckerwattesitze.
Schaffner nehmen Kies statt Geld.
In die Lande! In die Städte!
An der Grenze, die keine ist,
wartet ein Kind und lutscht am Daumen,
da oft und gerne man's vergißt.
Auf der erfüllten Sommerstraße
einer leergewohnten Stadt
stimmt eine Grille ihre Geige,
weil Clown Hummer Kummer hat.
Seelen haben Feierabend.
Schlendern müde durch die Gassen.
Bis die Bars sich endlich öffnen,
verbringen sie die Zeit mit Hassen.
Es steht ein schiefes Gartenhaus
mitten in der Stadt
das Fenster aus Marmor
und Wände aus Efeu hat.
Hier wohnt nun das kleine Kind
mit Bart und grauen Haaren
auf sein Erwachsenwerden,
das es verpaßte schon vor Jahren.
Einfallspinsel vor den Bildern
in Hoffnungsgrün und Endlosblau.
Abstrakter Stil mit Hinweisschildern.
Nichts erkennt man ganz genau.
Ich deute sinnvoll die Bedeutung,
mutiere stolz zum Ratlosgaffer,
und zahle schwelgend meine Steuer
in diesem Land, das heißt Metapher.
Meine
Aufgabe
Markus
Veith ©
Kurz nach jeder Gänsehaut,
wenn sich Zittergrashärchen aufrichten
wie entwurzelte Mammutbäume
Kurz vor einem Blick in den Nachthimmel,
einen Gleißschweif erwartend,
einen Wunsch sprungbereit am Zungenrand
In diesen Momenten,
diesen kürzesten Ewigkeiten,
kann alles, was hinter deiner Stirn tobt, geschehen
Während Bürgersteige zu Asche zerrieseln
zündest Du Dir eine Zigarette am Sylvesterfeuerwerk an
Das Schicksal winkt nicht
Meine Aufgabe ist es niemals aufzugeben
Liebste !
Brief an eine Unbekannte
Markus
Veith © Januar 1997
überarbeitet im Juli 2003
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Ich schreibe, was ich Dir nicht sagen kann.
Ich ahnte, dass ich allein war. Ich meinte zu merken, glaubte zu verstehen, zweifelte an der Vermutung und kam zu dem Schluss, an dem kein Ende abzusehen war. Kein Wunder, dass ich mich immer schon nackt fühle.
Nie bist Du da, wenn ich Dich brauche. Nie kannst Du kommen, wenn ich nach Dir rufe. Nie hörst Du mir zu, wenn ich Dir etwas zu sagen habe. Doch trotz allen Enttäuschungen würde ich alles für Dich tun. Und noch einmal. Wieder und wieder.
Also schreibe ich einen dieser Briefe, die man ein Nochmal liest, ein Nochmal schreibt, und aus Unlust vor weiteren Nochmals schnell verschickt, sämtliche Sätze, Worte, Buchstaben bereuend, sobald das Kuvert die Finger durch den gelben Schlitz verlassen hat, um dann dem Postboten aufzulauern und ihm unter fadenscheinigen Begründungen den Brief abzuluchsen. Plötzlich musst Du unerreichbar sein. Mir bleibt nichts übrig, die Briefe ihrem wirren, letzten Punkt zu überlassen, sie in den Tiefen meines Schreibtischkerkers einzusperren, auf Nimmerwieder-Lesen, -Schreiben und -Verschicken. Zerreißen traue ich mich nicht. Die Tinte ist mein Blut.
Hin und wieder glaube ich, Dich zu entdecken, Dein überhaupt nicht und trotzdem so vertrautes Antlitz deutlich zu sehen, wie man es in dahinziehenden Wolken erkennen kann. Kurz, immer nur kurz, tauchst du auf und wehst an mir vorüber. Eine blinde Taube auf der Suche nach Land, so zart, dass Morgentau ihre Flügel zu zerbrechen droht. Eine Ballerina in meinen Tiefschlafträumen. Du hinterlässt nichts als Sandstrandtanzspuren. Auf Urlaubskatalogfotographien und in Photo-Love-Storys in Jugendzeitschriften. Hinter den optischen Täuschungen der Landschaft: In zärtlich verdeckenden Winterummantelungen, Frühlingskirschenknospen, sommerlichen Eiscremezungen, frivol luftigen Herbstentkleidungen. Ich sehe Dich – könnte es beschwören – wenn ich lange in eine Kerzenflamme träume und betrunken in der Zukunft wühle. Leere ich meinen Becher, schaust Du mir aus der Neige entgegen.
Ich renne durch die Städte, verstecke mich in der Menge, suche Dich in Ecken und Winkeln der gemeinen Menschheit, die überall im Wege herumsteht, mich anstarrt und bespucken möchte. (Sie wird mich nie treffen. Ich bin flink unter ihren Augen.) Oft meine ich, mitten im Irgendwo Deinen Gang zu sehen, Deine unbekannt geliebte Gestalt unter sanft dahinwehenden Kleidern zu erahnen? In diesen Minutenstunden schwillt meine Liebe an zum unermesslich schrecklichen Unmaß, denn ich kann nichts anderes mehr als nur hoffen: „Bitte bemerk mich nicht. Nicht jetzt. Nicht hier.“ Aber wie oft musste ich mich schon für eine Verwechslung entschuldigen? Wie oft brüllte ich jeden an, ob jemand Dich kenne? ‚Nein’, lachten sie. Nein, solch eine gäbe es nicht, könne es gar nicht geben. Was ich mir für Illusionen mache? ‚Nein.’ – Anderes bekam ich nie zu hören.
Und doch. Sie müssen lügen. Häufig genug glaube ich Dein schmuddeliges Gesichtchen als Spiegelung in Spritzwasserpfützen wahrzunehmen. Ich sehe Dich Liebkosungen und Küsse verteilen, mit den weit ausgebreiteten Armen einer Brot spendenden Elisabeth. Sehe Dich an Hälsen geschmiegt, die ich am liebsten umdrehen will. In den Armen verabscheuungswürdiger Trottel, die nicht wissen können, was sie an Dir haben. Was sie an Dir haben, was ich niemals haben kann ...
‚Seht, was sich da an Eure Herzen bettet!’ will ich ihnen zuschreien. ‚Seht diese Schönheit, die ihr abschleckt und hinunterschlucken werdet, als sei sie eine Süßigkeit, die es an jeder Straßenecke und nach jedem Kinderarztbesuch gibt. Und Ihr überlegt, ob Ihr Pfand heraus bekommt!!’
Ich sollte es längst besser wissen. Du bist die Plätzchendose, an die man nie herankommt. Für die man sein Leben lang zu klein ist. Ich habe Dich in zu vielen Häfen gefunden und trotzdem nie meine Nähe an Deiner gerieben. Ich segelte um die Sonne, taute die Pole mit meinem Leib und buddelte mich zum Mittelpunkt meiner Welt. Dort habe ich mein Bild von Dir gefunden. Wo sonst hätte es sein sollen?
Aber ist es nicht die Geduld, die Erfahrung bringt. Und Erfahrung bringt Hoffnung. Und Hoffnung, sagt der erste Heilige zum letzten Narren, lässt nicht zuschanden werden.
Ich suche Dich weiter. Und sei es, um mich selbst zu finden. Sei es, um selbst nicht gefunden zu werden. Das schaffe ich und weiß es von den Leuten, die mich ständig nie erreichen. Als verrückt Entrückter halte ich mich gut. Ich bin der Narrenritter, der um das Herz der Königin kämpft.
Ich will Dir endlich dienen können. Prüfe Deinen unbekannten Lakaien. Ich sehne mich nach Deiner nie vernommenen, mir aber mit jeder Nuance bekannten Stimme, nach ihrem Klang, der mir im Kopf schwingt. Deine schöne Stimme aus kraftvollen Lippen, Deine Stimme mit den grünen Augen, mit den langen Wimpern und den empfindlichen Ohren. Deine Stimme, aus der sich Dein Haar auf Deine Schultern herabwellt, so voll, nach Frühling und Freiheit duftend, nach dem Himmel und – wenn alles andere zutreffen sollte – dann meinetwegen auch nach Festiger. Endlos lang wallt es an Dir herab. Hinab auf die Grübchen Deiner Lenden. Hinab auf Deine Hüften, so beweglich, so verlockend lockend, allgegenwärtig. Deine herrlich vollen Brüste, die nicht unerwähnt bleiben dürfen, da sie so perfekt in meinen Händen zu liegen kommen könnten, … wenn sie hätten gelegt werden ... können ... würden … Ach! Wenn wir uns jemals lieben könnten!!!
Auf der heftig schleudernden Waschmaschine, in den in Grund und Boden benebelten Weinnächten meiner Wohnung. Zwischen den siffigen Mülltonnen der Hinterhöfe, frei für die Blicke der Nachbarschaft. Unter blühenden Kirschbäumen, deren Zweige Blüten auf uns nieder regnen ließen, weil die Erde von der Wucht unserer Liebe erbeben würde. Während unseren Spaziergängen inmitten hoher Weizenfeldernachmittage, wo wir unsere gewaltige Lust der Sonne ... entgegenschreien könnten!!!! Der Wald entlaube sich auf uns, unsere ungezügelte Nacktheit hielte er für unzüchtig. Gefesselt an den Rändern des Alls! Das Universum wundstoßend! Galaxien flutend! Welten zeugend! Das alles könnten wir, wenn es unser Uns jemals geben würde ...
Was würde mit uns geschehen?
Wir würden verglühen. Nicht wahr?
Lieblos in Kälte verpuffen.
Mit jedem ausgezogenem Kleid. Mit jedem Fortwerfen einer Decke. Mit jeder gelösten Umarmung.
So viel Wärme zu verschenken. So viel Hitze zu vergeuden. So viel Glut!
Gibt es Nachtspeicher für Liebe?
So genau ich weiß ‚Ich lebe’, so sicher weiß ich: Wir kennen und kannten uns. Immer wieder wurde und werde ich für Dich neu geboren werden. In früheren Zeiten ließ ich Dich vor mir an Mama Wolfs Zitze saugen. Wir sprangen gemeinsam Hand in Hand aus dem Haupt unseres Vaters. Unsere jungfräuliche Mutter wurde einst durch unsere Geburt entjungfert.
Eben daher würde ich jederzeit für Dich sterben, Dir nach meinem Tod den Weg weisen. Sei es Walhalla, sei es Nirwana oder Styx: Vergiß alle Fährmänner! Alles Stümper! Mein Boot ist sicherer als alle anderen. Ich weiß, wie Kater schnurren. Ich weiß, wie Espenlaub zittert. Ich wüsste mit Argusaugen über Dich zu wachen und Krokodilstränen nach Dir zu weinen. In meinem Leben werde ich mich niemals sicher fühlen. Aber in Deinem ... vielleicht.
Und wüsste ich, dass mein Tot Dein Leben voraussetze, nichts könnte mir so leicht von der Hand gehen. Ich würde in die Hölle stoßen, dem Teufel orpheusgleich die Ohren zerharfen, um Dich aus dem Keller herauszusprengen. Ich würde ... Ich würde ... wenn es möglich werden ... könnte ... Allein Deine Existenz würde Nötigung für mich sein. Doch hier ist der Haken:
Würde, Würde. – Zuviel der Würde.
Ich nehme meine Liebe auf Lunge, um nicht an ihr zu ersticken. Kein Schmerz, kein Leiden. Keine Zeit zur Zeit. Für mehr. Ich darf Dir keinen Schlafsand aus den Augen streicheln. Ich darf Dein Herz nicht an meiner Hand spüren. Darf Deinen sicherlich zuckersüßen Mund nicht schmecken. Aber, und das ist so sicher wie meine Liebe: Ich könnte Deinen Geschmack sofort erkennen, sobald seine weiche Zunge mich sanft umspielt. Das weiß meine Geduld genau. Und Rechtbehalten ist schlimm.
Manchmal denke ich: Es ist Zeit. Zeit zu schlafen. ‚Gute Nacht, alter Freund. Schlaf Dich zu Deinen traumhaft schönen Träumen. Morgen wird ein neuer Tag sein, auf den Du Dich freuen darfst, weil er wahrhaftig sein wird. Grüble nicht mehr, was gewesen, was wäre, was sein würde oder könnte. Deine Herzdame ist eine Lady Joker. Man sieht sie nicht im Stapel, trotzdem ist sie in jedem Spiel dabei. Deine Königin dient nur dem Feinde! Und du glaubst, du hast das HerzAss im Ärmel, das Dich Dinge sehen lässt, die nicht sind. Es ist schwarz, verdreht und blattstielig.’ – Was man halt so denkt. Kurz vorm Einschlafen.
So stelle ich mich schlafend in meinem brennenden Bett und habe feuchte Träume. Meine Barden singen an Deinem Fenster die Lieder aus vertrauten Zeilen. Oden, die nur für uns geschrieben worden sind. Ich schrieb sie mit Tinte auf Fontänen.
Ich wollte nie ein Leben ganz ohne Sorgen.
Ich will kein Leben ganz ohne Leid.
Ich will einen blutigen, rotbewölkten Morgen,
an dem es dornige Rosen schneit.
Der Narr ist tot!
Lang lebe der Narr!!!
Ich werde weiterhin die Raben fragen und beobachten, wie mein Bart um den Altar wächst. Als verrückt Entrückter halte ich mich gut. Ich bin der Narrenritter, der um das Herz der Exil-Königin kämpft.
Ein kleiner Engel fliegt vorbei, der seinen Pfeil wieder aus mir herausziehen möchte. Doch ich lasse ihn nicht, rupfe ihm die Federn aus und versohle ihm den Hintern, wobei ich lauter weine als er.
Liebste! Ich erwarte Dich am Anfang.
Ich werde Wurzeln züchten.
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Der
Träumer
Markus
Veith ©
Der Schüler grübelt in Formeln
und freut sich auf die Pause.
Der Lehrer knickt ein Eselsohr,
markiert jede neue Flause.
Dem Strebenden stirbt der Finger ab.
Er verlernte den Blick nach unten.
Dem Faulen ist das Läuten schnurz.
Er denkt nur an brennende Lunten.
Und der Träumer stützt die Hand ins Kinn ...
Die Mutter streicht die Laken glatt,
und spart in engen Strümpfen.
Der Vater leckt seine Schwielenwunden,
ohne die Nase zu rümpfen.
Der Urahn schaut patriarchisch,
sprengte aber nie seinen Rahmen.
Das Kind unter seinen strengen Blicken,
versucht ihn grimassisch nachzuahmen.
Und der Träumer erkennt im Wünschen Sinn ...
Der Katholik beugt seine Knie,
und wartet so auf seinen Einen.
Der Jude zupft sich an der Locke,
arg bemüht, sich selbst zu einen.
Der Moslem ruft fordernd nach Ehre.
Mit Fleisch und Blut für Einigkeit!
Der Buddah hockt im Schneidersitz
und lächelt in die Ewigkeit.
Und den Träumer erfreut das Rund am Kreis ...
Der Realist ruft: "Alles Quatsch!",
und weint nachts in sein Kissen.
Der Idealist wundert sich empört,
dass wir nicht so wie er vermissen.
Der Weise aber kriecht ins Fass,
winkt Herrscher aus seinem Himmel.
Der Narr feixt Weisheit und wird geköpft.
Wie lachend rollt seine Kappenbimmel.
Und den Träumer freut, dass er nichts weiß ...
Der Fisch meint sich als Ursprung
und verfängt sich in einer Schlinge.
Der Affe plädiert für Neuanfang,
also, wenn's nach ihm jetzt ginge.
Der Vogel zwitschert unbeschwert,
dass nur der helle Tag was tauge.
Die Made, in der nächsten Nacht,
lutscht sich in sein totes Auge.
Und der Träumer schaut versonnen in die Höhe ...
Und der Nordwind,
der stöhnt klirrend.
Und der Südwind,
der schwitzt sirrend.
Und der Westwind,
besingt sich lobend.
Und der Ostwind,
der hört es tobend.
Und der Träumer genießt eine sanfte Böe ...
Die Winde streicheln die Berge,
fegen blank die Kronen,
nagen an den Felsen,
brutal und gierig, seit Jahrmillionen;
und sie reiben Stein an Stein,
der bis zum Mikrokorn verlischt,
bis der Letzte dieser Welt,
sich alte Berge aus den Augen wischt.
Der Träumer streckt die Glieder,
dreht sich um und schließt die Lider.
Er begnügt sich, ein glücklicher Idiot zu sein,
und schläft lächelnd hinter eig'nen Toren ein.
Herbsthymne
Markus
Veith © September – Oktober 1997
überarbeitet im Juni 2003
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Der Herbst klemmt mir bunte Geschenke hinter die Sonnenblende.
Ich verspüre Lust, selbst ein Herbst zu sein. Mich unentschlossen umzukleiden, immer andere Farben anzuprobieren, bis ich so buntgesogen bin, dass ich all die Fülle abstreifen muss, um an ihr nicht zu ersticken.
Stürmisch um die Häuser will ich reiten. Schreiend und jauchzend. In Geschwindigkeit enttauchen, ertrinken, wieder erleben und aufsteigen, um alles Weltlich über mich herschwappen zu lassen, und von mir schleudernd zu verachten.
Ach, Herbst. Warum lässt man dich zwischen Kalt und Warm verhungern? Die Menschheit freut sich nicht auf dich. Sie geifert nach den präsentären Weihnachten, wo sie Kauftempel stürmen kann – möglichst schnell und stressfrei. Sie freut sich auf Misereor-Spendentüten, die man stopfen oder übersehen kann, auf straßenrußige Schneemänner und auf die trübe leuchtenden Augen ihrer smog-hustende Kinder, die man dann versorgen kann. Dunkelhäutige Nikoläuse grinsen auf Grußkarten mit dem jüngsten Familienspross im Arm. Mit Höflichkeiten an die Sippschaft, deren Abwesenheit man erhofft.
Sie giert nach Krokussen, die auf Agfacolorfotos durch weiß erdrückte Bachquellen hervorbrechen wie eben geschlüpfte Küken. Sie hängt künstliche Blütenbäume und Plastikkarnickel in alle Ecken und seufzt sich warm an der im Stadtpark gekappten Blumenpracht, die klägliche Wurzeln in heimische Vasen reckt. Sie leidet den kirchlichen Festen entgegen und lässt nichts ‚Sündiges’ aus, stopft sich mit Eiern aus, bis Cholesterinspiegel in bedrohliche Bereiche schwindeln. Gute Jahresbeginnvorsätze werden mit „Danach, dann aber wirklich“ abgespeist.
Sonnige, warme und hoffentlich bräunende Ferieninseln reißen die Menschenmassen an sich. Füllen sich mit überfüllten Abfülltheken. Das Wetter hat sich – wie katalogisiert – artig nach dem Willen der Menschheit gerichtet. Diese verflucht wie gewohnt die Hitze. Alles beim Alten. Jeder ist zufrieden unzufrieden, weg vom heimischen Fenster (wo seltsamerweise nie Unterhosen an Wäscheleinen hängen) und doch irgendwie zu Hause. Man hat die erwünschte Dunkelbräune erreicht, um glaubhaft beweisen zu können, wie viel man von Land und Leuten gesehen hat und zeigt den Diavortrag ‚made in Spain’.
Ach, mein Herbst. Unter den Jahreszeiten bist du das Aschenputtel, das Schmuddelchen, das nur zu Hochzeiten hinter dem Ofen hervor kommt und sich in Goldkleid und Jeansjacke den Blicken zeigt. Dem Frost bist du zu dünn und der Wärme zu dick. Du erscheinst trist und unfein. Man zieht dich in Gesellschaft nicht an. Erst wenn man dich ertragen hat, bist du warm und gemütlich, schleifst und zerrst nicht mehr, sondern lässt dich genießen und versöhnend stimmen. Schmiegst dich windig und stürmisch wie ein ‚Enfant terrible’, das Streicheleinheiten benötigt an die Schultern derer, die dich liebgewonnen haben.
Du bist der brave Diener, der der Welt die Tafel deckt, um sie, wenn sie leergegessen ist, wieder abzuräumen. Man bedankt sich zwar, flucht jedoch auf dich. Die Rechnung bringt ein anderer und sie lässt uns kalt erschauern. Das Trinkgeld bekommt noch ein weiterer, der schön lächelt und für die nächsten Gäste dekoriert.
Doch trotz allem Unbenehmen liebst du deine Geschwister. Brav nimmst du das Zepter der Zeit entgegen und gibst es nur widerwillig wieder ab. Da du weißt, was folgt. Sie ist trügerisch, die kalte Weisheit. Deine Weisheit ist die Warnung.
„Nehmt, was ich euch gebe!“ rufen deine Winde. „Nehmt, rafft zusammen, bevor es um euch herum zerklirrt.“ Aber wer hört auf dich? Wer muss hören? Die Winter sind warm geworden und du hast kaum noch Grund zum Feiern, da Erntedank das ganze Jahr über anhält. Für die meisten bist du nur Ungemütlichkeit.
Der junge Spund Frühling. Er ist froh, dass er nichts mit dir zu tun hat. Lang von dir entfernt, liegt er schläfrig als dein Gegenteil zwischen Kälte und Wärme, freut sich an sich selbst und lässt an sich erfreuen. Er weckt all jene, die du liebevoll in erholsamen Schlaf gesungen hast.
Und der Sommer? Er verachtet dich. Du machst seine Arbeit zunichte. All die Freude, die Parties, die Küsse und Versprechen, Erinnerungen und Urlaubfotos, alles lässt du unwirklich erscheinen. Dein erster Raureif macht den Gedanken, einst an jenen Stellen im Gras in der Sonne geschwitzt zu haben, vollkommen unglaubhaft.
Zumindest der Winter sollte dich mögen; wo du ihm so ähnlich bist. Mit kalten Fingern Hand in Hand könnte er mit dir gehen. Doch mit seinem hochnäsigen, naseweisen Weiß sieht er dich als einen Vorarbeiter, einen Wegbereiter der wahren Kälte, als Vortrupp, der ihm den Weg ebnet. Du bist für seine Exzellenz nur ein Schüler, dem er lehren kann, was wahre Kälte, was echtes Wintertum bedeutet.
Aber musst du es lernen? Willst du das? – Du weißt um die Liebe der kleinen Gemeinde, die dich erwartet. Die windroten, lachenden Gesichter mit den dunklen, braunen und grünen Augen. Wir halten unsere kalten Nasen tief in dich hinein und inhalieren den Duft des bunt-feuchten Laubes. Wir sind die ersten, die dicke Pullover und Handschuhe anziehen, um sie in den Sonnenstrahlen deiner Nachmittage wieder von uns zu legen, die das vom Windstoß gefällte Laub wie weichen Schauer auf uns nieder regnen lassen. Du zerrst und zaust uns an den Haaren, berauschst uns mit rauer Stimme und singst uns die Ohren rot.
Mit meinem Herbst will ich Liebesgedichte an den Frühling schreiben, an das Gefühl, jemanden nie erreichen zu können. Ich will in weißen Aphorismen über den Winter diskutieren und in warmen Erinnerungen an Sommernächte schwelgen. Mit ihm will ich den Himmel wolkig schmauchen, Schäfchen auf die große, blaue Weide treiben, und beobachten, wie sie vom Wind geschoren werden.
Ich will seine Früchte sammeln – Kastanien, Hagebutten, Bucheckern, Kürbisse – um Tee und Brei aus ihnen zu kochen, um im Satz zu lesen, was das Nächste mir bringt. Alles will ich von ihm lernen.
Und einst will ich mich im Herbst zur Ruhe legen. In der Hoffnung, den Winter zu verschlafen. Und wenn ich im Frühjahr erkranke, so weiß ich, dass ich auf den Herbst warten darf, um in ihm sterben zu dürfen. Und dann, wenn dies geschehen ist, – dann will ich selbst ein Herbst sein.
Und ich werde ein guter Herbst sein.
Für Katrin
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Das
Phantom, der Opa und Rucke, die Kuh
Markus
Veith ©
Letzte Nacht trafen sie sich im "Räudigen Gnu"
das Phantom, der Opa und Rucke, die Kuh.
Sie bestellten sich so manche Schaumblumenrunde,
da führte Phantom das Glase zum Munde
und sprach: "Wir verbessern die Welt, das wäre der Clou!
Wir drei allein, so ist es gescheit.
Ein Geist und das Alter, mit einer Kuh als Geleit!"
Und so tranken noch lange weiter im Gnu
das Phantom, der Opa und Rucke, die Kuh
Und Opa nuckelte am Schnabeltassenbier.
"Hört, Freunde, hiermit beschließen wir:
Wir lassen die Welt nicht im Stich und in Ruh. -
Wir siehen aus in diese grausame Welt
und jeder erzählt das, was er gerne erzählt."
Es stimmten dem Vorschlag ohne Zögern zu
das Phantom, der Opa und Rucke, die Kuh.
Und Rucke, die schon den Euter voll hatte,
beteiligte sich ihrerseits an der Revoltendebatte
mit einem begeistert euphorischen "Muh!"
Und da sie nichts weiter dazu sagen wollte,
fiel's nicht auf, als sie zur Toilette sich trollte.
Am späteren Morgen kamen zum Rendevous noch dazu
Das Känguruh im Dessous und ihr Filou, der Marabu
Sie muteten sich zusammen recht viel noch zu,
tranken dies und das und immerzu,
aßen dazu auch noch IrishStew-Ragout,
bis das Phantom zum Opa sprach: "Hör mal, du.
Besser, wir lassen diesen ganzen Revoltenschmu,
Wir kriegen doch jetzt schon die Tür nicht mehr zu
und außerdem hab ich hab voll ein'n im Kahn."
... äh ...
Was dazu führte, daß dieses Gedicht,
ob es nun wollte oder auch nicht,
eine ziemlich wirsche Wende nahm,
und die Züge von einem Melodram bekam:
Denn der Opa, obwohl schon reichlich lendenlahm,
machte auf sich aufmerksam,
indem er, ganz infam und ohne Scham,
plötzlich unbeugsam polygam
Marabus Kängeruh von hinten nahm.
Dem Phantom wurd es kalt und warm,
denn dem wütenden Marabu
paßte dies Geplänkel mit seinem Känguruh
ganz partout nicht in den Kram.
Er schwang mit Schwung den Flügelarm,
und prügelte ganz skrupelarm
ein auf Opas künstlichen Zwölffingerdarm.
Der letzter Hieb kostete Opas letztes Amalgam,
und er stolperte unwegsam
gegen Rucke, die grad von der Toilette kam.
Rucke wurde übel vor plötzlichen Gram,
und überflutete Opa noch euterwarm
mit einigen Resten alkoholischen Rahm.
Endlich schlug der Gnu-Wirt Alarm
und den Rest erledigte der Dorf-Gendarm.
Heute morgen flogen aus dem "Räudigen Gnu"
das Phantom, der Opa und Rucke, die Kuh.
Am Anfang stand ein revolutionärer Gedanke,
doch was folgte war nur Geficke und Gezanke.
So ist es doch immer, ach, geben wir's doch zu.
... Leider blieb es bei diesen peinlichen Schaumblumenrunden,
denn dies Gedicht wurde vom Dichter als Schwachsinn empfunden.
Ich
kann Lyrik nicht ausstehen!
Markus
Veith © Februar 2003
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Vergiss es, Junge, ich sage nichts zu deinem Text.
Warum? Weil er mir nichts sagt. Er unterhält sich nicht mit mir. Ich habe keine
Lust beim Lesen auf einen Sinn zu warten, der sich mir erst offenbart, wenn ich
genügend Bierblumen gepflückt habe.
Schreib was du willst, aber verlange nicht von mir, es verstehen zu müssen,
geschweige denn es gut zu finden. Für Lyrik gibt es sicherlich die ein oder
andere Technik. Aber im Grunde kannst du machen, was du willst: Dein Erfolg ist
nichts als Wohlgefallen.
Reime sind Pinguinkacke. Sie lassen Blumen blühen, damit sie von präpubertären
Einhörnern zertrampelt werden. Ich brauche Struktur, keine Adjektive. Ganze Sätze.
Subjekt-Prädikat-Objekt. Nenner unter Zählern. Sinn statt Senf. Achten vor dem
Loch. Punkt statt Semikolon. Paff-Paff-Paff-Paff! Tut mir echt leid, mein
Freund, aber ich kann Lyrik einfach nicht ausstehen. Ich denke mir zu viel
dabei. Oder zu wenig. Oder gar nichts. Jedenfalls nicht das, was du dir möglicherweise
dabei gedacht hast. Will ich auch gar nicht.
Ich habe keine Lust mehr, in Nordstadtkneipen herumzulungern und Metapherrästel
von Möchte-gern-literarischen Rebus-Zeichnern zu lösen.
Ja, ja, ich weiß, du schreibst ja bloß, weil es dir Spaß macht. Du willst den
Ruhm ohne Bestseller. Scheiße! Gleich sagst du mir noch, dass man dich zwingt
intellektuell zu sein.
Hey, fang jetzt bloss nicht an, mir den Sinn deiner Lyrik zu erklären. Lyrik
ist meistens Un-Sinn. Gedankenverdreherei. Stimmungsgemauschel. Wortdrechselei.
Absatzgestaltung, die sich anhört, als huste der Tresenpoet seinen Hirntumor
aufs Papier. Deine Lyrik eingeschlossen, und sowas lasse ich mir nicht ins
Gehirn drücken. Kein Mensch redet so! Würdest du es tun, dürfte man dich bald
nur sehen, wenn man sich an Besuchszeiten hält.
Okay, ein Rat zur Güte. Weißt du, deinen Zeilen fehlt einfach die gewisse Stärke.
Ehrlichkeit. Immer auf die Fresse, Mann! Verbalsprügel! Es gibt nur eine Realität!
Und sie kotzt Blut, merk es dir. Schreib aus dem Bauch und nicht aus dem Kopf.
Und wenn deine Zeilen nach Blähungen klingen, dann soll das eben so sein.
Gut, schön, du hast nicht den Anspruch stark zu sein. Endlich jemand, der Schwäche
zeigt, was? Zügellocker Einhörner schubsen, hm? Herz-Schmerz-Tintensymphonie
in Reim-Moll. Vergeigen und -trompeten. Herrje! Auch wenn du den Liebesakt als
‚Verschmelzung' metaphierst: Ein Mann und einen Frau bleiben ein Mann und eine
Frau. Sie ficken, Herrgott nochmal! Das Wort ist längst legitimiert. Es kommt
in jedem zweiten Text vor. Verkauf mir ein Gedicht wenigstens als Minnegesang
deines persönlichen Wahnsinns!
Wie du es schaffen sollst, so zu schreiben? Na, schau dich um, setz dich hin und
fang an. Schreibe über den Typen, der blass, mit offenen Hosenstall und um zwei
Kilo leichter von der Damentoilette kommt. Über das Mädel, dass den Eingang
versperrt, weil es Gratis-Karten aussucht, statt den Stapel mitzunehmen. Denk
dir aus, woher sie den Knutschfleck unterm Auge statt am Arm hat, warum der Wirt
besoffen ist oder der Kaffeetrinker gähnt. Mensch, was weiß ich, denk dir aus,
warum morgen Sonntag ist. Schreib um dein, aber bloss nicht von deinem Leben.
Und entscheide dich um Gottes Willen für Prosa. Ich kann Lyrik nicht ausstehen.
Und wehe, ich erwische dich, wenn du das eine im anderen versteckst. Ich polier'
dir die Fresse. Und darüber wirst du dann schreiben können, das schwöre ich
dir.
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