In die Gedanken schlagen
Waldemar Hammel ©
Damals, als Rudolph noch nicht mein Großvater war, befand er sich in einem Alter, in dem Helden gewöhnlich tot sind.
Wie immer kreiste um die Mittagszeit das einmotorige Sportflugzeug mit santem Brummen am Himmel, warf zwischen die Schatten der Schäfchenwolken Tragflächenblitze.
Rudolph betrachtete den aquamarinblauen Himmel, der genau dieselbe Frabe zeigte, wie manche der ungeheuren Majuskeln in jener Bibel, von deren Druckvorlagen er als Lehrling in der Werkstatt seines Meisters heimlich Abzüge gemacht hatte.
Unter diesen spätgotischen Himmel war ein grünes, welliges Tuch gespannt, Berge hielten es am Rande der Aussicht fest, wie ein Zögern gegen die Winde fremder Meere.
Als dicke, blauknotige, verschlungene Schnüre liefen die Venen an der Rückseite seiner Unterschenkel bodenwärts und endeten in zwei mageren, atrophischen Fußrücken. Rudolph litt seit seiner Jugend an Krampfadern, und seine Beine waren, spätabends besonders, wie knorrig verwachsene Wurzeln uralter Eichenbäume.
Seine Sommerfreunde, die ihn oft in kurzen Hosen und barfuß sahen, hatten den Eindruck, als wäre Rudolph mit diesen Beinwurzeln in seiner Erde verwachsen. Und andere Freunde kannte er nicht. Das kam daher, weil er nur selten Spaziergänge unternahm, niemals lief oder marschierte, aber häufig still in sich gekehrt einfach irgendwo dastand.
Rudolph war ein kontemplativer Buchdrucker.
Weil er scheinbar langsam war und unbeweglich, so fest verwurzelt in überreichen Architekturen seiner Gedanken, war es den Narren ein Leichtes, sich mit ihm Späße zu machen.
Ohne, dass Rudolph es begriffen hätte, spielten sie bereits Räuber und Gendarm mit ihm, dachten sich den Stern auf seine Brust, jagten und fingen ihn tausendmal ein in anfangs nur kuriosen Labyrinthen, ihn, den seltsam Gehbehinderten, als er noch Wochen seines Lebens hergab, die Sprachen jener Bücher verstehen zu lernen, mit welchen sich Eisenherren bald darauf imaginäre Adlerhorste in Sonnenwendnächten erhellten.
Ein Lieblingsspiel nannten sie Kinderkaufladen.
Wenn alle sich mit ihren Lebensmittelmarken in einer Warteschlange vor der Kasse aufstellten, musste Rudolph immer den Letzten machen. Sein unmittelbarer Vordermann, der dicke Sohn des alten Schlaab, bezog ein Pfund Butter, zwei Kilo Mehl, eine Tüte voller Zucker und fünfhundert Gramm Brot. Rudolph blieb eine Tüte leerer Zucker, kein Pfund Fett, keine fünfhundert Gramm Brot, kein Liter Milch und ein fünf-Kilo-Beutel leerer Kartoffeln für seine Familie und sich.
Rechtgläubige Sobernheimer zogen dann alle Register ihres Gelächters. Das klang im Krämerladen wie ein Geruch von Wiesen nach der Heuernte, wie das Plätschern von Wasser aus den Schaufelrädern der Nahemühlen, klang wie das kokettierende, liebliche Lachen der Mädchen hinter großen Wiesenblumensträußen, klang wie "Judensau", wie "am Brunnen vor dem Tore", wie "verrecke!".
Das war, um es tragen zu können, auf Dauer zuviel, um es essen zu können, zu wenig.
Wenn Rudolph nach Hause ging, beobachtete er in manchen Fenstern der alten Häuser hauptsächlich erwachsene Männer, die mit geladenen Spielzeuggewehren auf ihn angelegt hatten.
In der ersten Zeit machte er sich nichts daraus. Das war, als er es noch für einen gewöhnlichen Unfall hielt, wenn er ins Feuer griff und sich verbrannte, obgleich stets hellerer Schmerz ihm fremdartig eisig Welten durchschnitt.
Später, als ihm fortwährend die Flammen aus den Fingern schlugen, als er langsam begriff, dass sein Spießrutenlaufen zwischen Spielzeuggewehrschüssen ihn unweigerlich einmal vor Kimme und Korn einer tödlichen Pistole bringen würde, legte er sich während zwingender Spätsommernächte pharmazeutische Ringe vertrakter Galeniken um Hände, Augen, Ohren und Mund, denn er verstand sich auf die Alchemie des stummen Schweigens.
Im November 38 wurde es dann mit seinen Fingern anders.
Wenn er jetzt gezielt in Brände griff, bemerkte er die Verbrennungen in Haut und Gedanken nicht mehr, denn er fand sich gänzlich von seltsamen Feuern besessen.
Zuerst hatte er das nicht bemerkt, aber als er an einem Novemberabend in der Synagoge stand, brannte plötzlich alles um ihn herum, alles, was er berührt hatte, alles, was er nicht berührt hatte mit seinen Feuerfingern.
Es war seine Schuld, dass die Synagoge niederbrannte.
Draußen, vor dem Funkensturm, hingen bleckende Zahnreihen in einer gesichtlosen Nacht, welche die Augen seiner Nachbarn trug.
Und vor seinen Ohren dröhnten Schmiedehämmer auf Ambosse aus Kristallpalästen. Viele Herzschläge lang zählte er den höhnischen Reim ab: "...und wem es in der Küche zu heiß ist, der soll doch draußenbleiben".
Wie immer, wenn Rudolph eine Welt verloren hatte, suchte er sie wiederzufinden in seinen Büchern.
Doch welche er auch greifen wollte aus den Regalen seiner Erinnerung, sie zogen sich zurück vor seinen Fingern, denen ungeahnte Feuer entstiegen, blieben stumm hinter seltsam knisternden blauen und roten Flammen.
In einer Nacht träumte ihm, er säße mit dem alten Heinrich Neu, der stets seine Schuhe während des Sitzens auszog, im Cafe Manstein in der Großgasse. Alles war genauso wie früher in seiner Jugend. Kinderlachen auf dem Marktplatz, zwischen blühenden Blumenrabatten und vorbei an den Auslagen kleinstädtischer Neuheiten flanierten in leichten, harmlosen Sommerkleidern die ewig jungen, dorfschönen Mädchen. Er war wieder im ersten Lehrjahr und saß im Cafe vor einer Schale Vanilleeis. Der alte Neu malte ihm umständlich einen Sonntagsausflug nach Schliffges Mühle.
Rudolph löste sich von dem Bild und erträumte in einem tieferen Traum einen Kaschmirmarkt mit echten Schlangenbeschwörern vor weißen Transparenten, auf denen in den bunten Schriftzeichen verschiedener Völker ein altes tibetisches Gebet angemalt stand. Die Anfangszeile in Sanskrit hatte er gerade gelesen "Om mani padme hum...", als plötzlich von irgendwoher eine warmflüssige, leuchtendrote Soße über sein Vanilleeis ausgegossen wurde, und der dicke Neu ganz unvermittelt in seinem Stuhl zurücksank und den Kopf mechanisch mit dem Geräusch in Pfannen aufzischender Sonntagsbraten deckenwärts gleiten ließ.
Ein langer Pfeil steckte ihm, von seitwärts eingedrungen, genau in der Kehle. Aus der durchschossenen Halsschlagader pulste eine Blutfontäne, lief am Pfeilschaft entlang und sudelte von dessen Ende hinab ins Vanilleeis.
Als Rudolph den Blick in Richtung des vermeintlichen Schützen wandte, gewahrte er seltsam erstaunt einen riesigen, schwarzen Adler auf dem Tresen. Den stahlblinkenden Bogen hielt er in seinen Krallen.
Während Rudolph ganz deutlich zu verspüren glaubte, dass jetzt Angst geschah, lachte der Adler ihm den Radetzki-Marsch vor, und der Cafebesitzer Manstein und die anwesenden Gäste waren Publikum bei einem Aufmarsch der SA mit Blasmusik und Prügelreden, die aus braunen Lederriemen fielen.
Darob geriet Rudolph mit den Augen in Brennesseln. Wie ein Insekt, das sich eben noch aus den tödlichen Klauen einer Spinne befreit hat, sich instiktiv nach unten fallen lässt, weil es an eine Sicherheit der Tiefen glaubt, so ließ er sich da in einen noch tieferen Traum fallen, entkam aber nicht aus dem Bannkreis des Nachtmahrs und hatte weiterhin grelle Albträume unter Adlerfittichen. Es wollte auch nichts helfen, dass er seitdem ins nahegelegene Weinhaus Hartmann ging, wenn er Gesellschaft suchte.
Die letzten Monate seines Lebesn verbrachte Rudolph zuerst im Rollstuhl und dann im Bett.
Freunde, die ihn noch besuchten, kamen in Pfadfinderuniformen und stellten Holzprügel und Totschläger hinter die Türe, ehe sie an Rudolphs Bett in welschen Zungen Nibelungenlieder sangen und Stimmen hatten wie Bombenschächte und Bordgeschützaugen.
Ihre Adlerblicke legten sie wie eine granitene Drohung auf Rudolphs bleichende Hakennase, wenn sie ihm mittags - alle waren bereits im Sanitätsdienst ausgebildet - heiße Zaubersuppen aus Nürnberger Küchen einflößten.
Lautstark zogen sie Rudolph damit seine goldenen Zähne, doch ihr Brecheisenlachen störte ihn schon nicht mehr auf seinem wirren Qualflug durch ein Angstall voll glutender Ruinenbrände, die ihm Träume eingaben, von denen nicht ein einziger mit einem vorstellbaren Leben vereinbar war.
Johannes Fischer, der Son der alten Kat, den ein italienischer Fremdarbeiter "Gettatore" genannt hatte, erzählte Rudolph eines Tages von einem polnischen Schlachthaus, weil ihn der Stern auf Rudolphs Alltagsmantel am Kleiderhaken störte.
Und Rudolph war dort. Schweine trieb man direkt aus den Ställen fichtenbrettergezäunte Wege entlang bis vor die Metzger. Auf den Zuruf "Jetzt!" begann sich ein großes Metallrad zu drehen. An dessen Peripherie hingen frei bewegliche, große Messer. Durch die schnelle Drehung des Rades verursacht, richteten die Messer sich alle mit Schneiden und Spitzen nach außen. Dann fuhr der Messerradstern, von einem Hydraulikgetriebe langsam bewegt, auf die eng zusammengedrängte Herde der Schweine zu.
Als Rudolph, in seinen Kissen sogar, den Eindruck hatte, die Schweine seien gar keine Schweine sondern Menschen, und sich um ein Weniges zu weit vorbeugte über die Absperrung, packten ihn seine Freunde wie in Angst um sein Leben, stießen ihn vor eines der Messerräder und brachten ihn - Kinder, die sie waren - mit dem Kommando "Achtung-Fertig-Feuer!" zwischen den Messern zu Fall.
Von den Beinen gerissen sah Rudolph sie noch ihre Spielzeugwaffen schultern, und ihm fiel ein Kaiser seines Namens ein, der aus Angst davor umgebracht zu werden, zeitlebens als Stallknecht verkleidet den Hradschin umstrich.
Das geschah, bevor stolze Pimpfe den halb noch Lebenden in Greifenklauen zu der hölzernen Nahebrücke schleiften und ihn dort, es war ein vermeidbarer Unfall, seitlich über die kantigen Eichenbohlen in algengrünes Wasser stießen.
Rudolph verstand, dass jetzt ein blauer Ball auf ihn zugeflogen kommen musste, wollte die Magie seiner Feuerhände einsetzen um ihn abzuwehren, aber dieses Mal versagten sie.
Als der blaugrüne Ball, Nohwacke mit Namen, Rudolphs Kopf traf, waren sie bereits im Flusswasser erloschen.
II
Vor dem türkischen Dorf Azuré am Schwarzen Meer liegt Ibrahim, mit dem Rücken an einen Felsblock gelehnt. Einen Grashalm zwischen den Lippen drehend, schaut er seine grünen Weiden.
Und ihm träumt, er sei jener Kaiser, Rudolph mit Namen, der sich niemals im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vor den Beamten des Ausländeramtes ausziehen musste, damit der Antsarzt das Krampfaderwurzelgeflecht seiner Beine begutachten konnte.
Ihm träumt, er, der Kaiser, säße auf dem Ehrenplatz bei einem höfischen Ritterturnier. Es ist die Zeit der Minne, und er hat ein Liebeslied geschrieben. Nachdem er es vorgetragen hat, huldigt man ihm und schenkt Beifall. Und das Klatschen und Lachen klingt schön in seinem Herzen, hell wie die Sommersonne, es erfrischt seine Seele wie derTau, welcher sich morgens auf die Alhambra legt, riecht wie die Rosen der vatikanischen Gärten, klingt wie Kümmeltürke, rauscht wie ein Ballkleid, über ihm zusammen wie Drecksausländer.
Er wird wach und hält die Krone des Reiches in Händen, all seine Güte und Großmut, Minister umstehen ihn, vor ihm liegt als Geschenk ein kostbarer Foliant aus Deutschland. Ein Knappe hält knieend den Einband und deutet in lächelnder Ergebenheit auf einen Satz.
Ibrahim beugt sich vor und liest einen Gruß aus Deutschland, der heißt "Hohe türkische Feste sind Rhamadan, Schlussverkauf und Sperrmüll." Und darunter ein Rezept deutscher Gläubigkeit "Man bekommt zehn Türken in einen VW, indem man vier hineinsetzt und die anderen sechs in den Aschenbecher kippt."
Doch als Kaiser Rudolph da böse Augen macht, und Ibrahim mit vorgestreckten Armen über den Tisch langen will, den Knappen zu ergreifen, verwandelt sich der in schweren, süßlichen Ghettorauch und in einen unfassbaren, bürokratisierten Haß. Windhunde halten Ibrahim bereits in den Fängen, zerquälen seine Seele zwischen den Stempelkissen ihrer Edelstahlzähne, zermartern seinen Kopf durch dumpfe Faustschläge in die Gedanken.
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